Nachbarn im Haus, Engelbertstraße 51

 

Nachbarn im Haus, Engelbertstraße 51

Ich wohnte in dem Haus Engelbertstraße 51 von 1957 bis 1971, zu einer Zeit also, wo alle meine Freundinnen und Mitschülerinnen in neueren oder doch renovierten Wohnungen oder gar Häusern wohnten, einige wenige Kinder aus meinem Häuserblock ausgenommen. Für sie war es oft nicht nachvollziehbar, wie wir uns dort behelfen mussten (wie „in alten Zeiten“) Ohne Bad, warmes Wasser, Zentralheizung, Kinderzimmer, trockene Wände, ohne verschlossene Haustür, ohne Klingeln unten oder an den Wohnungstüren, ohne Knauf von außen, nur mit Klinken, jederzeit offen, jeder konnte hereinkommen.
Ja, es war ungewöhnlich und ich sehnte mich dann schon nach einem warmen Bad und Klo, Badewanne und Dusche, eigenem Zimmer, geschütztem Raum …

Ganz oben im dritten Stock, neben uns wohnte die Zichy. An sie habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Sie war dünn, schlampig gekleidet und fast so böse wie meine Oma, die sich abwechselnd mit ihr verbündete und zuschlug, dann wieder ihre Todfeindin war. In dem Fall versuchten sie, sich gegenseitig „auszurotten“.
Dort oben wohnte noch „Tante Gerull“,die „Berta“. Einen „Onkel“ dazu gab es anfangs auch noch, aber er war selten zu sehen und hieß auch von Anfang an nur „Herr“ für mich. Herr Gerull. Sowie Herr Eimann, aber: Onkel Nowak, von dem ich den Vornamen Ludwig oft hörte, Herr Meyer und Herr Zdiarsky.
Tante Gerull hielt sich sehr gerade und war eher hager. Sie hatte anfangs einen Haarknoten, später auch eine Dauerwelle, wie alle anderen, die bei den älteren Frauen wie Wattebäusche um den Kopf standen und manchmal in feine Haarnetze gepackt wurden. Sie blickte etwas streng, hatte viele Fältchen im Gesicht und sprach ostpreußisch oder schlesisch, jedenfalls sehr anders als unsereins. „Das geheert sich nicht“, war eines ihrer geflügelten Worte. Sie war gerecht und herzensgut und ganz offensichtlich früher „Besseres“ gewohnt gewesen. Sie war trocken, ernst und etwas selbstgerecht. Jetzt erst erfuhr ich von Mama, dass ihr Mann ein „Zeuge Jehovas“ war, was für sie sehr schwer anzunehmen war. Deshalb hätten sie jahrelang im Streit gelebt und kaum noch miteinander geredet. Frau Gerull sah ich nie in der Kirche.

Sie fiel nur ansatzweise auf meine Oma herein, als diese meine frisch zugezogene Mutter bei ihr anschwärzen und unmöglich machen wollte. Und immer wieder mal ein wenig – aber jedes mal fragte sie dann Mama, ob das wirklich zuträfe und deckte so manche Intrige auf. Dann zog sie sich von meiner Oma immer mehr zurück. Oma konnte Frau Gerull nicht ausstehen! Die stand meiner Mutter aber auf ihre Art schon bei. Wir durften jederzeit klopfen und hereinkommen. Ich höre ihr etwas verzogenes „Here-in“ immer noch. Ich durfte oft mal kurz bei ihr bleiben, wenn Mama nicht wusste, wohin mit mir … Deshalb kenne ich ihre zwei Zimmer Wohnung noch gut, in die sie schließlich nach langer, beschwerlicher Flucht eingewiesen worden war. Wie sollte die Wohnung schon aussehen? So ähnlich wie die anderen, viel Wahl blieb da nicht – und doch hatte jede Wohnung ihr eigenes Flair. Bei ihr gab es ausgesprochen viele Häkeldeckchen in der Wohnküche, in der sich natürlich auch gewaschen wurde. Es duftete oft nach Sandkuchen und Plätzchen. Es gab Königsberger Klopse mit Kapern, wie nie bei uns. Eine gediegene, edle Ordnung mit viel Duft und Spitzen. Im Schlafzimmer das typisch riesige, dunkle Ehebett mit meterdicken Federdecken und Kissen. Ein Monstrum von Kleiderschrank, eine Kommode und zwei Nachtschränkchen.
Dazwischen ein etwa sechzig Zentimeter breiter Gang. Gerade soviel Platz, dass die Schranktür noch aufging. In diesem Bett starb eines Tages ihr Ehemann, dessen Gesicht ich nicht mehr vor mir sehe. Ich glaube, er war eher schüchtern und etwas kleiner als sie, ein schmaler Mann.
Einmal, als meine Eltern nur außerhalb der Ferien Urlaub bekommen hatten und so gerne verreisen wollten, nahm mich Frau Gerull, denn Oma hatte es schließlich abgelehnt, nachdem sie zuerst vage zugesagt und dann lange hin und her überlegt hatte, ob sie mich schaffen würde, ob sie gerade beleidigt war oder nicht…
Ich sollte im großen, kalten Ehebett der Gerulls unter ihrem meterdicken Federbett, das klamm und schwer auf mir lag, schlafen. Das ging nicht! Ich starb fast vor Angst, denn hier war jemand gestorben, den ich fast noch im Bett spürte!
Frau Gerull sagte mehrfach liebevoll gedehnt: „ Nun schlaf scheen“, aber mein Herz raste und ich bekam hohes Fieber! Am Tag durfte ich auf ihrem Sofa liegen, wurde aber immer elender und kränker. Ich konnte nichts mehr essen noch trinken und Tränen strömten aus mir. Als am nächsten Tag immer noch „Holland in Not“ war, wagte sie sich zur Oma, die dann auch gucken kam.

Nun erbarmte sie sich und nahm mich auf ihr Schlafsofa. Oma verbrachte auf diesem Kanapee Tag und Nacht. Es hatte viele weiche Kissen und eine warme Wolldecke, die man tagsüber gegebenenfalls etwas aufrollte. Das war´s. Das Sofa war warm und duftete nicht nach Muff und Feuchtigkeit, sondern nach Leben und Körper. Oma verbrachte Ihre Nächte nun im Nebenzimmer, das halb verfallen war, der Fußboden war lose und einsturzgefährdet und die Außenwand schimmelte wie verrückt, auf einem alten, ausrangierten Ausziehsofa, das sehr unbequem war. Ich aber wurde auf ihrem Kanapee wieder gesund gepflegt, was lange dauerte. Sie hielt auch die ‚Tradition“ ein, mir beim ersten aufkommenden Appetit gebratenes Hähnchen von der Pommesbude zu holen oder eins zu machen … das war nach jeder Krankheit meine erste Lust und jeweils ein Lebenszeichen, nach dem man sich richtete …
Wie ich aufatmete, als ich zu ihr umziehen durfte, obwohl ich der Tante Gerull natürlich dankbar war! Aber viel lieber wollte ich Omas „Liebchen“ sein! Ganz nah geborgen sein. Also pflegte sie mich gesund und meine Eltern hatten von ihr die Hölle, als sie aus dem Urlaub zurückkamen. Sie waren aber auch lange weg! Drei Wochen! Wie alt war ich? Acht? Zehn? Wie hatten sie es ohne mich bloß ausgehalten? Dazu natürlich die immerwährende Angst, sie könnten nicht zurückkommen und wohin dann mit mir?

Ich hatte einen sehr fein gestrickten, weinroten Wollpullover, den hatte Tante Gerull für mich gestrickt und er passte sehr lange. Zuerst wurden die Ärmel aufgerollt und er war sehr lang, schließlich saß er knapp und modisch kurz oberhalb der Taille. Ein schönes Stück! Aus der aufgeribbelten Wolle eines Pullovers von früher, noch aus Ostpreußen .. Er kratzte nur etwas, das war besonders schlecht für die Ekzeme, ja, ich hatte sogar eine Wollallergie attestiert. Ich trug halt die weißen Verbandsbinden darunter, die mir jeden Morgen neu angelegt wurden und die sich dauernd lockerten und verrutschten.

Frau Gerull hatte zwei nette Enkeltöchter, die mit mir im Kindergarten waren, Moni und Gabi, fröhliche, selbstbewusste und kräftige Mädchen, wie ihre Mama, die Ursel . Den Vater dazu habe ich nie gesehen. Ich mochte die beiden sehr, aber um Freundinnen zu werden, waren sie doch zu sehr sich selbst genug, und sie wohnten auch in einem relativen „Neubau“ am Elisenplatz. Die Ursel galt bei Mama als hochnäsig und schließlich zogen sie weg und wohnten noch etwas feiner in der Nähe des Parkfriedhofs.
Oft klagte Tante Gerull auf dem Flur über ihren hohen Blutdruck, sie durfte keinen Bohnenkaffee mehr trinken! Wenn sie vom Blutdruckmessen kam gab sie im Hausflur säuerlich und resigniert über die Werte Auskunft.
Später putzte ich für sie die Treppe, wenn sie dran war, und bekam dafür fünf Mark.
Unsere Treppe oben wurde gründlich geputzt, dafür sorgte meine Mama. Das graue Linoleum glänzte, so gut es ging, sowie die „goldene“ Türklinke der Klotür auf dem Treppenabsatz. Die Fensterscheiben waren sauber, wenn auch die Farbe an den fast auseinanderfallenden Rahmen abblätterte und wir da nicht groß dran rühren durften.
Ich lernte, das Geländer und die Fußleisten zu putzen, und zwar jedes Mal!
In meinen ersten Erinnerungen sind die Treppenstufen hölzern und ausgetreten, mit etwas dunkelroten Farbresten. Das Geländer wackelt sehr und der nasse Putz blättert von den Wänden auf die Stufen. Die Klotüren sind abgeschabt und verdreckt, von den Klos ganz zu schweigen! Auf jedem Absatz, gegenüber des Klos, ist ein kleines Blechwaschbecken, die einzige Wasserquelle für die Parteien des nächst höheren Stockwerks. Später haben wir einen Spülstein mit fließend kaltem Wasser in jeder Wohneinheit, wo sich gewaschen, gekocht, gespült wurde, und über die Stufen, die irgendwie begradigt wurden, ist dieser graue Linoleum genagelt. Die nassen Wände sind dürftig gestrichen, mit einem Ölsockel in grau, der mit einem roten Pinselstrich abgeschlossen wird.
Die Klotüren werden grau lackiert. Die Fensterbretter im Flur bleiben hölzern und ausgewetzt. Die Klobrille ist aus halbverfaultem Holz eingelassen ins Porzellan, zum Teil fällt sie ab. Man muss sehr vorsichtig sitzen, das heißt, sie kann eigentlich auch nicht geputzt werden! Die Leitungen sind nicht mehr gut und so manches Mal „läufts über“…
Die Klotür ist von Innen mit einem rostigen Häkchen mühsam verschließbar, und das ist für mich besonders toll … es ist der einzige Ausweichort, an dem ich für mich sein, allein sein kann. Lesen darf ich noch nicht auf dem Klo, außer den Zeitungsabschnitten zum Abwischen liegt da noch nichts, und es wäre ungehörig gewesen, ein Buch mitzunehmen! Die Schnipsel werden natürlich gelesen. Vor allen Dingen meditiere ich dort die abblätternden Wände, die niemals renoviert worden waren, so dachte ich. Meine Phantasie schlägt Wellen, ich sehe Tiere, Menschen, Hexen, Bäume, Landschaften. Ich sitze so lange wie möglich da und genieße es, der unheimlich angespannten Welt der Erwachsenen mit gutem Recht entkommen zu sein und in Ruhe gelassen zu werden, so kalt und eklig es auch sein mag. Mama ruft schon „ Wo bleibst du denn!“ „ Ja, ich bin gleich fertig (aber jetzt noch lange nicht).

Ich schleiche auch die Bodentreppe hoch, die auf unserem Absatz beginnt. Sie ist „alt“ geblieben, ehemals weinrot, hölzern, ausgetreten. Vor dem Eingang zum Dachboden ist noch eine kleine Plattform, aus losen Brettern. Hier flüstere ich herum, stelle mir vor, ich lebte im Kinderheim mit vielen anderen Kindern. Ich tauche ab für mich allein und gehe weg von hier. Ruft mich nicht!
Der Dachboden selbst ist ein Horrorkabinett! Es regnet herein, große Löcher sind im Dach und die Pfannen sitzen nur lose. Alte Zinkwannen und Eimer stehen herum, und wenn es stark regnet, muss man sofort reagieren und hoch rennen, alle Gefäße richtig unterstellen und ausleeren. Trotzdem haben wir oft Wasserflecken an der Zimmerdecke, es läuft in die Wände, die schimmeln und die Tapeten abstoßen.
Auch der Fußboden oben, ein Bretterboden ist stark beschädigt, in manche Ecke darf man nicht gehen! Und dort hängen kohlschwarze, dicke Spinnennetze, meterdick und darin gibt es ungeheure, schwarze Spinnen. Trotzdem wird in der Mitte, wo er noch hält, die Wäsche aufgehängt auf „echte“Leinen, denn im Hof ist weniger Platz, außerdem wird die Wäsche dort schnell schwarz bestaubt! Also schleppen wir aus der Waschküche im Horrorkeller, die nasse Wäsche ganz nach oben, auf den Horrorboden, zum Aufhängen.
Im Keller gibt es noch lange kein elektrisches Licht, als im Flur endlich so was installiert wird und das angstvolle hoch rennen in der Dämmerung und Dunkelheit aufhört.
Ich habe panische Angst in diesem Keller! Erstens gibt es Ratten, große Biester, zweitens ist es dunkel, wir haben nur die Taschenlampe, es ist schwarz, denn es ist ein Kohlenkeller, die Treppe ist so alt und steil, aus Stein und kaum begehbar. Und außerdem wohnt dort der Teufel! Es muss wohl so sein, denn meine Angst ist riesengroß, dort überfallen und ermordet zu werden. Unten an der Treppe, den Gang nach rechts, wo sich auch die Waschküche befindet, ist es besonders schlimm! Liegen da Leichen oder was? Im Krieg hat man sich hier herunter geflüchtet, wenn man es in den Bunker nicht mehr geschafft hat. Glück gehabt! Das Haus war zwar stark beschädigt, blieb aber stehen. Die Nachbarhäuser wurden wegrasiert, auch das, in dem Oma und Papa damals wohnten. Sie wurden vorübergehend in der Luisenschule evakuiert und dann hier rein gesetzt.
Hängt die Angst in den Wänden?
Ich muss oft was aus dem Keller holen, denn dort ist auch unser Eingemachtes aufgehoben. Ja, Mama macht ein, was auch immer sie auf dem Markt bekommen kann, oder bei Sonntagsspaziergängen am Stadtrand sammelt, denn sie fürchtet sich vor dem nächsten Krieg und einer Hungersnot. Dort ist auch die Kiste mit den Einkellerungskartoffeln, die großzügig mit Gift bestäubt werden, damit sie nicht keimen und die Ratten sie nicht mögen. Unter dem kleinen Kellerloch zur Straße hoch dann der Eierkohlenberg. Der Keller ist schwarz: Ich hole auch Kartoffeln und später Kohlen, mit der Kohlenschütte. Die Kohlen werden uns umsonst von der Zeche geliefert, ein Grund mehr, ohne Zentralheizung zu wohnen und Geld sparen zu können. Sie kommen ohne Ankündigung ganz unvermittelt. Dann liegt der Berg auf dem Bürgersteig und alle müssen auf die Straße ausweichen. So manches Mal, wenn wir von der Arbeit oder aus der Stadt kommen liegt er schon da, wer weiß wie lange. Dann gilt es, keine Müdigkeit vorzuschützen. Wir müssen so schnell wie möglich die Kohlen durchs Kellerloch in den Keller schaufeln. Ich stehe dabei, bald helfe ich mit meiner kleinen Schaufel.
Ich verlasse den Keller jedes mal in Panik, ich fühle deutlich Gefahr im Rücken, jemand ist hinter mir her und es geht um mein Leben. Ich knalle die Kellertür zu, doch „der“ huscht jedes mal mit durch und rennt mir die drei Stockwerke hoch nach! Erst wenn ich die Wohnungstür auch noch zugeschlagen habe, verzieht er sich sozusagen schnaubend wieder und ich bin hier vorläufig in relativer Sicherheit.
Auch wenn ich abends im Dunkeln durchs Treppenhaus muss, später sogar mit Licht, das bis oben nicht ganz reichte, der Weg nach oben ist eine Folter.
Das ändert sich allerdings auch später im neuen Haus nicht, als ich 14 Jahre alt bin.
Die Angst im Rücken gibt es auch im Wald. Es gibt sie heute immer noch zuweilen, wenn ich eine gewisse innere Grenze überschreite und mich für meine Verhältnisse zu weit in einsame Gegenden wage.

Aber in der Waschküche ist es sehr interessant! Ich bin ja dort nur mit Mama, nah neben ihr. Wir stehen auf Holzpaletten, darunter fließt das aus den Steinbecken abgelassene Wasser über den Boden in einen Abfluss in der Mitte des Raumes, der etwas vertiefter liegt.
In der Mitte steht ein riesiger, beheizbarer Holzzuber, in dem die Wäsche gekocht oder erhitzt und mit einem riesigen Holzstiel umgerührt wird. Anschließend wird sie damit herausgefischt und ins erste Steinbecken, das mit eiskaltem Wasser gefüllt ist, geklatscht, ausgewrungen, unsere Hände werden feuerrot, und ins zweite Steinbecken mit kaltem Wasser zur weiteren Spülung geworfen, wieder ausgewrungen. Fertig. Ich helfe, so gut ich kann!
Auf dem Dachboden gebe ich Mama die Klammern an, und wenn sie mich mitleidig in die warme oder kühlere Wohnung schicken will, schüttle ich den Kopf: Ich kann dort einfach nicht so gut alleine sein!
Die Geister kriechen aus den Ecken, wenn Mama nicht da ist.

Und wieder Engelbertstraße 51

So abbruchreif der unverputzte Kasten war, so zittrig, zusammenbrechend, eine bessere Ruine, hab ich ihn trotzdem geliebt. Eine schmerzliche Liebe, wie jede meiner Lieben. Er tat mir leid, ich wollte nicht, dass er zusammenbricht.
Ich träume immer wieder von diesem windschiefen, einsturzgefährdeten Haus, habe Ideen, wie man es renovieren, stützen könnte, sodass wir, die wir (oder ich allein) keine Wohnung haben, darin wohnen könnten. Das löst meistens gleichzeitig Erleichterung und Enttäuschung aus. Einmal ist es auch schon direkt vor mir zusammengefallen.
Ich bin nun im zweiten Stock, unter uns angekommen. Dort wohnte zum Einen das Ehepaar Elli und Ludwig Nowak, beide klein und rund, er mit spiegelnder Glatze, rundem Kopf, sie mit breitem Gesicht, wackelndem Kopf, vielen Falten und treuen braunen Augen mit Goldpünktchen. Tante Nowak hatte verspannte Nackenmuskeln, die wie ein Rucksack auf ihr saßen, fast wie ein Buckel und ständig gespritzt wurden, was die Schmerzen nicht lindern konnte. Kein Masseur konnte je diesen Panzer durchdringen. Die Familie war ebenfalls aus Ostpreußen geflüchtet. Tante Nowak war ein Anlaufpunkt in Not für meine Mama, zum Beispiel als die Geburt sich anbahnte und keiner da war. Meine Mutter half ihr bei schweren Einkäufen und lieh ihr Ohr für Erzählungen. Neben Nowaks, vor denen ich keine Angst hatte, wohnten Fritz und Olga Rot. Schon der Name allein lässt mich heute aufhorchen. Die Rots waren mir unheimlich, obwohl sie keinen bedrohten. Sie wirkten sehr geschädigt.  Er war groß, sehr dünn, mit überaus weiten Hosen bekleidet, die von Hosenträgern gehalten wurden. Er trug eine eher weibliche Wolljacke über dem Hemd. Er schlurfte gebückt und hielt sich dabei den Bauch. Sein Gesicht war lang mit vorspringendem Kinn, dabei auch großflächig mit sehr blassen, kleinen Rattenaugen und vielen eingegrabenen Falten. Er leierte nörgelnd herunter, was er sagen wollte, mit relativ hoher Stimme. Wenn er zum Klo ging, hingen die Hosenträger schon an den Seiten herunter und er hielt die Hose fest auf der Treppe. Eines Tages, als er auf dem Weg dahin war, ich kam gerade die Treppe hoch, stand da die Eimannsche und versuchte, ihm die Hose herunter zu ziehen, lachend, bestimmend. Er solle doch mal zeigen, was er da hat, er habe ja gar nichts. Angstvoll konnte Herr Rot, seine Hose am Bauch zusammenhalten, gerade noch ins Klo flüchten und den Haken einhaken.
Olga war sehr klein und humpelte stark. Sie hatte glatte Haare im Pottschnitt, fettig, nur noch einen herausragenden Zahn, ein „zugewachsenes“ Auge und sie war sehr verwirrt, aber nicht bösartig. Trotzdem sah sie original aus wie eine Märchenhexe! Ich hatte große Angst vor ihr. Sie grinste aber, wenn sie mich sah und ab und zu gingen wir auch in die sehr, sehr arme Küche der Rots. Fritz und Olga saßen dann tief versunken auf ihrem abgewetzten Sofa hinter dem Küchentisch, boten uns auch irgendetwas Klebriges an – ich wollte nur wieder weg! Es war eine schreiende, stinkende Not. Abends und mittags schlurften und humpelten sie über den Hausflur in ihr Schlafzimmer, das genau unter unserem im langen Gang lag. Zwischendurch wurde das Zimmer abgeschlossen. Wie konnten die sich noch versorgen? Ich glaube, Mama half auch etwas mit.
War den Rots irgend etwas zugestoßen? Wer waren sie wirklich?
Gegenüber von Rots Schlafzimmer, in den beiden Zimmern unter der späteren Wohnung meiner Oma, ebenfalls im langen Gang, lebten Herr und Frau Eimann, sie hieß auch „die Eimannsche“ und war laut, grell und ordinär, aber mit Herz! Sie sang und lachte, schimpfte und fluchte und beschwor den Weltuntergang bei Gewittern, wenn wir uns alle im Flur der 2. Etage zusammendrängten. Ich kenne sie fast nur in Kittelschürze, oft mit Lockenwicklern im dunkelrot gefärbten Haar. Sie hatte grobe Gesichtszüge, einen großen, geschminkten Mund, der oft eine kitschige Schnute zog, sehr rot geschminkte Wangen. Beide waren jetzt Marktleute, aber einmal war Frau Eimann eine Prostituierte gewesen, wie ich hörte. Ich konnte mir nicht viel darunter vorstellen, aber die „Stahlstraße“ war, so wie sie ausgesprochen wurde, etwas sehr Anrüchiges und gleichzeitig Interessantes.
„Er“ war still, teigig, mit rotem Gesicht.
Die Eimannsche konnte Intrigen spinnen, war die geborene Klatsch- und Tratschtante und man konnte nie wissen, zu wem sie gerade hielt und was sie mit wem zusammen aussann. Sie rief mich oft herein, ich stand auch vor ihrem Küchentisch, dahinter das Sofa. Ein Kind! Alle stürzten sich auf mich als Lichtpunkt, als Hoffnungsträger vielleicht. Hier gab es Süßigkeiten, aber gesetzt habe ich, haben wir uns hier nie.
Dann wurde Herr Eimann krebskrank, er lag leidend auf dem Sofa, er magerte ab, stumm, dann schreiend, und schließlich starb er in der Küche. Dieses Sterben bereitete mir unendliche Ängste. Noch lange hörte ich ihn die Treppe herauf kriechen zu uns, zu mir. Er stöhnte, war schon eine verwesende Leiche, die mich holen wollte, jedenfalls zu mir wollte.
Die Eimann sprach mich freundlich, aber auch ironisch an. Ja – gibt’s denn so was, so ein zartes, unschuldiges Mädelchen – na, wird schon noch werden … Mit dem oft Turbanartig gebundenen Kopftuch erinnerte sie mich auch an die „Witwe Bolte“. Die Kittelschürzen trugen fast alle Frauen im Haus, oft sogar für kleine Einkäufe gegenüber im Emma-Lädchen. Ansonsten Kostüme oder unförmige Mäntel, wenn sie länger gingen oder gar zur Kirche gingen. Die Eimanns waren keine Kirchgänger, wohl aber Frau Nowak, die später an Mamas Arm ging. Tante Gerull war evangelisch.

Auch der Schuster Smuda, der unter unserem Wohnzimmer, also zwischen Rots und Eimanns Schlafzimmer sein Zimmer hatte, wurde nie in der Kirche gesehen. Er hatte seine Schusterwerkstatt in der Wohn – schlaf – Küche … Außerdem einen großen, scharfen Schäferhund, der jeden herein-, und keinen wieder hinausließ ohne gewaltsam festgehalten zu werden. Ich wurde leider manchmal hinunter geschickt, Schuhe abzugeben. Der Smuda war billiger, außerdem brauchte er dringend das Geld. Er hatte eine hagere, ausgemergelte Gestalt und eine spiegelnde Glatze, war hohlwangig mit großen Augen, die Haut spannte glänzend auf den Wangen. Er war nicht besonders groß und fast immer betrunken. Wenn er nachts volltrunken nach Hause kam, vertat er sich oft mit dem Stockwerk und kam zu uns hoch, wo er sich fluchend mit dem Schlüssel in unserem Schlüsselloch zu schaffen machte. Manchmal war ich eingeschlossen, allein und stand Todesängste aus, er könnte eindringen. Aber er verzog sich nach einer Weile fluchend nach unten, oder Mama brachte ihn, wenn sie da war.
Ein „armer“ Mann! Ich erinnere mich nicht, dass er jemals ein persönliches Wort mit uns wechselte, je den Mund zum Lächeln verzog.

Die Treppe hinunter und ein wenig aus dem Flurfenster geschaut zu den schönen Tauben auf dem Schuppendach im schmutzigen Hof!
Noch eine kleine Treppe und ich stehe bei Meiers vor der Tür. Auch Meiers hatten einen großen deutschen Schäferhund namens Alf. Der Alf war eine Seele von Hund, unheimlich kinderlieb. Man konnte ihn streicheln. Er war auch ein Beschützer Hund, einer, der kam und einen tröstete. Meiers waren sehr nett! Sie sprachen mich als ernst zu nehmende Person an, nicht so distanzlos, spöttisch, merkwürdig oder im Grunde an mir uninteressiert wie die anderen. Ich mochte sie, wenn ich dort auch leider nicht allzu oft war. In ihre genau gleiche Wohnung wie alle, unter Tante Nowak, hatten sie eine winzige Diele eingebaut, so dass man nicht sofort in der Wohnküche stand. Dadurch war diese etwas verkleinert, aber ich fand das unsagbar edel und schick. Auch hier stand sofort der Hund mir gegenüber, wenn ich geklopft und die Tür geöffnet hatte. Eine große Freude war die Begegnung mit ihm. Ja, wie sahen die Meiers aus? Ich weiß es kaum noch von ihr, gar nicht mehr von ihm. Sie waren jedenfalls schlank, Frau Meiers hatte eine etwas struppige Frisur, nach hinten gekämmte Haare und sie rauchte viel und hatte eine raue, tiefe Stimme. Sie hielten sich fern vom Klatsch und Tratsch der anderen und von den Intrigen.
Meiers hatten erwachsenen Kinder und eines Tages einen kleinen Enkelsohn, in den sie völlig vernarrt waren und der auch wirklich sehr süß war! Ich fuhr geradezu auf Babys ab und war begeistert, ihn ab und zu sehen zu dürfen, wenn er zu Besuch war! Auch andere Kinder aus der Nachbarschaft waren, warum auch immer weiß ich nicht, öfters mal einfach so bei den netten Meiers.
Als ich eines Mittags aus der Schule kam, war die Treppe blutbesudelt, dicke Tropfen und Kleckse führten von der Haustürschwelle bis vor Meiers Tür. Oh Schreck! Mir erstarrte fast das Blut in den Adern, etwas Schlimmes musste geschehen sein. Und so war es: Ein Nachbarkind, das zu Besuch war hatte das Baby auf Frau Meiers Arm kurz gestreichelt oder geliebkost und Alf, der Wächter und Beschützer hatte das missverstanden als Angriff auf das Baby und den Jungen angefallen, dabei hat er ihm eine Wange aus dem Gesicht gerissen! Danach wurde er selber abgeholt und musste erschossen werden! So der Bericht. Ich war am Boden zerstört. Dieser liebe Alf! Dieser arme Junge und die armen Meiers!
Wie konnte man sich denn so täuschen? Ich hätte dem Hund zu hundert Prozent niemals etwas so Gewalttätiges zugetraut. So lernte ich, dass ein Hund ein wildes Tier und unberechenbar ist, auch wenn er noch so lieb dressiert ist und auch wirklich Freundschaft geschlossen hat. Ich mag Hunde immer noch, aber ich würde mich ihnen niemals aufdrängen, sondern stehe ihnen abwartend gegenüber, bis sie von selber zu mir kommen.

Auf dieser ersten Etage wohnte unter den Eimanns die Familie Fix. Frau Fix war klein und stämmig mit roten, abstehenden Haaren, ich sah sie fast nur in der Kittelschürze. Ihr Mann war ebenso klein und beide sahen etwas aggressiv aus mit kleinen Augen und spitzen Gesichtern und verhielten sich meistens gereizt. Ich hatte kaum etwas mit ihnen zu tun. Sie hatten allerdings eine kleine Enkeltochter, Heike, die etwas jünger war als ich. Fixsens waren darauf bedacht, Heike vor uns Nachbarn zu schützen, sie sollte nicht „schlechten“ Einflüssen ausgeliefert sein. Sie durfte aber zu meinem Geburtstag eingeladen werden und kam manchmal auf den Hof, dann spielten wir Gummitwist. Ein Ende des zusammengeknoteten Gummis wurde um eine Aschentonne geschlungen, am anderen Ende standen Heike oder ich mit dem Gummi um die Beine. Heike stand zugegebenermaßen etwas öfter da als ich. Ich hatte einfach die längeren Beine und hüpfte für mein Leben gerne.
Manchmal sah uns Michaela, die im Parterre wohnte und zum Hof raus ihr Zimmer hatte, und kam auch raus, was eine Ehre war, denn sie war einige Jahre älter als ich. Michaela war sehr nett und sehr hübsch. Ich bewunderte sie und in frühen Jahren fand sie mich als Kleinkind süß und passte kurze Zeiten auf dem Hof auf mich auf.


Ja unten wohnten die Zdiarskis, deren Namen kaum jemand aussprechen konnte. So etwa: Dscharski. Die Mutter hieß Lilli und der Mann? Herr Zdiarski halt. Dann war da Michaela und später der kleine Thomas, den ich sehr ins Herz schloss, wie alle Babys. Herr Zdiarski arbeitete nicht auf der Zeche, oder doch? Jedenfalls waren sie die einzigen im Haus, die auf eigene Kosten ihre Wohnung etwas umbauten. Den langen, unheimlichen Gang verschlossen sie mit einer Tür, die eine Klingel bekam, und damit waren sie die Einzigen im Haus mit Klingel und Knauf von außen, in deren Wohnung man nicht einfach so hineingehen konnte. Sie grenzten sich also ab. Auch bauten sie ein Bad ein, mit eigenem Klo! Für die Kinder hatten sie je ein eigenes Zimmer! Sie galten demnach, obwohl sie wirklich unheimlich freundlich waren, als arrogant und wenn´s mal wieder ganz gehässig wurde als Pollacken oder Zigeuner. Herr Zdiarski sprach deutlich mit Akzent und war dunkelhaarig, wenn auch mit Vorderkopfglatze. Er hatte strahlende Augen und wenn er lächelte weit auseinander stehende Zähne. Er lächelte oft und ließ die interessanten Lücken sehen und einen Goldzahn blitzen. Lilli war ebenso dunkelhaarig und hatte sehr dunkle Augen, ein etwas knochiges Gesicht, aber sie galt als hübsch. Michaela sah einfach nur schön und weich aus, mit sanften, freundlichen Gesichtszügen. Sie machte später eine Friseur Lehre und durfte daraufhin im Haus allen Frauen die Haare machen. Auch meine Mama war einverstanden mit ihren Künsten. Noch dazu so billig! Es war gemütlich in unserer Küche, wenn Michaela da stand und Mama endlich mal auf einem Fleck saß und es sich gut gehen ließ. Michaela erzählte Geschichten und wir hörten gerne zu. Ich sehe mich im Bademantel dabeisitzen, auch Papa ist manchmal da und schaut sie gerne an.
Bei Zdiarskis war ich öfter mal. Nicht unendlich lange, aber doch so, dass ich mich gut erinnere. Es war toll, in Michaelas Zimmer zu gehen und die Erwachsenen außen vor zu lassen! Toll auch, einfach jedes Mal dort unten aufs Klo zu müssen und es zu bewundern, einschließlich Waschbecken und Badewanne mit Durchlauferhitzer. Alle waren sehr nett zu mir, warmherzig und zugewandt.
Die Zdiarskis standen auf Mamas Seite und glaubten meiner Oma ihre Schauergeschichten und Verleumdungen nicht.
Die Wohnung ganz unten links, gegenüber von Zdiarskis, also unter Meiers stand lange leer, denn sie war absolut nicht mehr in Ordnung. Eigentlich konnte keiner mehr dort wohnen …
Dann zogen dort aber die ersten „Jugoslawen“ ein, Familie Kosak, gesprochen: Koschak. Sie waren sehr froh, überhaupt eine Wohnung gefunden zu haben, noch dazu so billig. Kosaks sprachen kein Deutsch und waren als „Gastarbeiter“ gekommen. Er arbeitete auf dem Pütt, sie hatte Putzstellen und außerdem einen sehr süßen, sehr kleinen Jungen, höchstens drei Jahre alt, Zereschko hieß er. Der gewann natürlich sofort mein Herz und ich durfte irgendwie Kontakt mit ihm haben. Dieses Kind hat eine große Sehnsucht in mir entfacht, eines Tages selber Kinder zu haben oder wenigstens möglichst viel mit Kindern zu tun zu haben , wenn ich groß wäre. In der Kindergartenzeit wollte ich nichts lieber als Kindergärtnerin werden, in der Schulzeit lange Lehrerin. Das veränderte sich dann in der Gymnasialzeit nach und nach, als ich das Schulsystem durchschaute.
Natürlich hatte meine Mutter Kontakt zu Kosaks, und damit auch ich. Sie wunderte sich sehr, dass diese „Jugoslawen“ so ordentliche Leute waren und diese an sich unbewohnbare Wohnung so sauber wie möglich hielten, und auch im Hausflur ordentlich waren. Das hätte sie nie gedacht …

Es war eher ungewöhnlich, dass die junge Familie zusammen nach Deutschland gekommen war. Sehr oft kam nur ein Familienvater, um Geld zu verdienen und zu sparen. Ab und zu gab es dann einen Besuch zu Hause.
Als das Haus immer maroder wurde und eigentlich schon abrissreif war, zogen nach und nach Menschen aus. Die Nowaks, Elli und Ludwig, bekamen eine Wohnung in der Klosterstraße, etwas oberhalb vom Kindergarten. In Ihre Wohnung zogen ebenfalls Jugoslawen ein, Ehepaar Smuk. Die Wohnung war sehr einfach eingerichtet, es sah aus wie Sperrmüll, aber es war alles blitzend sauber. Wir wurden so oft es ging hereingebeten und eingeladen und jedes Mal wurde etwas aufgetischt! Mindestens ein Slibowitz! Ein Bier ! Süße, süße Kekse von zu Hause, aus dem Päckchen, Eine klebrige Limo! Kommt Rein! Die Gastfreundschaft und Freundlichkeit war einfach umwerfend und entwaffnend. „Er“ war auch auf dem Pütt, sprach sehr gebrochen ein paar Brocken Deutsch und bekam sogar Papa dazu, ab und zu reinzukommen und auf dem unvermeidlichen Sofa ein Bier mit ihm zu saufen. Da sitzen sie im Unterhemd ganz unkonventionell mit roten Gesichtern und trinken Bier und Slibowitz. Es wird gelacht, alles ist leicht und lieb.


Ehepaar Rot wurde dann doch, ich weiß nicht von wem, ich denke es war meine Mama, die sich dafür eingesetzt hat, in ein Altersheim umgesiedelt. So langsam sollte das Haus leer gemacht werden …
In Rots Küche und ihr Schlafzimmer im Gang zog ebenfalls eine Jugoslawische Familie, deren Nachname ich nicht mehr weiß. Mutter, Vater und ein etwa 14jähriger Sohn, in den ich mich (Mal wieder) unsterblich verliebte: Mirko. Er war so nett und auch hübsch, mit schwarzen Haaren und Saphir blauen Augen. Obwohl ich sicher erst maximal Zwölf war, fand auch er mich nett, interessierte sich für mich. Er lernte etwas intensiver Deutsch. In den Ferien oder Urlaub fuhren sie nach Jugoslawien. Von dort bekam ich sogar eine Ansichtskarte von ihm, mit unglaublich blauem Meer. Ich glaube sie kamen aus der Gegend von Split. Aus der Karte ging hervor, dass er wirklich auch ein bisschen verknallt war, was mich sehr stolz machte. Leider, leider gingen sie dann auch zurück in ihre Heimat. Auch bei ihnen haben wir den berühmten echten und selbstgemachten Slibowitz getrunken, ja, auch ich! Ab und zu. Wir wurden herzlich und für immer in unserem Leben eingeladen, sie in ihrer Heimat zu besuchen, sie würden es uns schön machen! Es war schmerzhaft, als sie weggingen. Mama hatte auch ihnen viel geholfen bei Behörden Gängen und einfach durch ihre Freundlichkeit und Nähe.
Durch alle diese Gastarbeiter Nachbarn wurde unser Leben im Haus bunter und freundlicher!
Ich bin sehr froh, dass ich diese Zeit erlebt habe, so nah zusammen.
Warum der Ruhrpott „Pott“ hieß, kann man an unserem Haus gleichnishaft erkennen. Er ist wie ein im Ruhrpott so geliebter Eintopf, in dem alles Mögliche Verschiedene sehr lecker untereinander gemischt wird und dann einen ganz neuen Geschmack gewinnt.
Dann zog sogar meine Oma aus. Sie bekam eine relative Neubauwohnung in Essen West. Unter Neubau fiel für mich alles, was Küche und Bad und eine Klingel außen und an der Wohnung hatte. Oma fühlte sich dort aber ganz fremd und schlecht. Ihr Wohnzimmer war sozusagen unbenutzt, sie saß nur in der Küche. Wenn ich sie besuchte, gingen wir in die Küche und sie erzählte von den auch hier unmöglichen Nachbarn, die irgendwas mit dem Putz falsch gemacht hatten, oder sie belästigten oder gehässig waren. Sie schaffte es selbst in diesem Haus, Aufsehen und Empörung zu erwecken und zu verbreiten, obwohl es eine viel größere Distanz gab.
Immer wieder warf sie uns vor, dass wir nicht bereit gewesen wären eine Wohnung mit ihr zusammen zu suchen. Für uns sollte es endlich der Befreiungsschlag werden, die mehr als überfällige Distanz herzustellen und uns bei dem beginnenden Wahnsinn meines Vaters wenigstens von den täglich Bosheiten der Oma zu lösen, die das alles ja mit verursacht hatte.
Schließlich wohnten wir fast allein noch im Haus mit einigen Jugoslawen.
Wir hatten nun oben sehr viel Platz für ganz kurze Zeit und ich bekam endlich, mit dreizehn Jahren, ein Zimmer, weit weg jenseits des langen Ganges, in Tante Gerulls ehemaligem Wohnzimmer. Auch ihr Schlafzimmer gehörte uns nun, die Papptür zur Küche wurde geöffnet. Ihren alten Kleiderschrank behielten wir, es wurde ansonsten ein Nähzimmer für Mama, ein Durchgangszimmer zu meinem Zimmer. Das Zimmer war mein sehnlichster Wunsch gewesen, trotzdem hatte ich nächtliche Ängste, wie immer schon, aber jetzt auch so weit weg von einer menschlichen Seele! Ich las begeistert, aber auch verkrampft die Nächte durch, konnte nicht aufhören. Mein kleines Radio lief dabei. Manchmal bekam ich mit, wie Papa mir behutsam das Buch aus der Hand nahm, ich hatte den Finger noch auf der Zeile, das Radio ausmachte und das Licht löschte. Aber oft genug hatte ich morgens einfach einen dicken Kopf, weil ich unausgeschlafen war. Nun hatte ich aber Platz zum Cello üben. Ich ließ meine Haare wachsen und beschloss, nie mehr jemanden an meine Haare zu lassen. Hier erträumte ich meine große Liebe und hörte mir in Ruhe CCR, T- Rex und andere Musik, die meine Eltern nicht mehr verstanden.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Aae_RHRptRg

Nach einem Jahr war auch für uns die Zeit gekommen, umzuziehen. Wir bekamen eine Wohnung in der Immestraße, wo damals vom neuen Rathaus noch nichts zu sehen war, sondern noch der schwarze Ribbeckplatz lag. Gegenüber war ein altes, sehr zwielichtiges Haus, nach dem ich mich nicht genauer erkundigen durfte. Aber unseres war ein Mehrfamilien Reihenhaus, nach dem Krieg hochgezogene Straßen, Fantasielos und grau, aber: Hört nur: Mit Badezimmer und Küche, mit Zentralheizung und Klingel!! Ohne Schimmel. Mit Fenstern zum schrägstellen. Ich war so froh und stolz, es war wie eine soziale Anhebung. Und auch Papa gab es nun auf, weiterhin auf ein Häuschen zu sparen. Alles bis jetzt Ersparte wurde in die Wohnung gesteckt: Schöne Möbel sollten es sein und für die Heizung ein automatischer Temperaturregler. Nein, es war anders: Mama bestand auf der Einrichtung und erfuhr erst hinterher, dass Papa das Ersparte für den Traum vom Häuschen bewahren wollte, dann aber nachgegeben hat. Also aus der Traum vom Häuschen …

Die Nachbarn im Haus, Engelbertstraße 51, waren nun verprengt. Es waren sehr besondere nachbarschaftliche Erfahrungen, sehr offen, auch zu offen, aber sicherlich wäre niemals einer der Nachbarn unentdeckt tot in der Wohnung gelegen, wie wir es später oft hörten und auch erlebten.

Die Engelbertstraße 51 blieb dann noch erstaunlich lange leer stehen. Wer hätte das je gedacht? Ich hatte Angst, sie könnte in sich zusammenfallen. Immer wieder gingen wir auf dem Weg in die Barbara Kirche und ich zu Schola und Gruppe daran vorbei. Es war schmerzlich, wie es nun ausgeliefert da stand und auf den Tod wartete.

Das Gelände dieses Engelbert/Beust/Frillendorferstraße Blocks ist jetzt ganz deutlich abgesackt, eine grüne Senke. Durch eine schöne Wiese führt ein Pfad. Nichts kann hier neu gebaut werden, die Gefahr von Tagebruch wäre offensichtlich zu groß.

Mehrstöckiges Gebäude Mit Geöffneten Fenstern Während Der Nacht

 

Die baufälligen Häuser standen sich gegenüber, im Hintergrund sah man die Zeche Graf Beust, mit Werkhalle. Zwischen den Häusern schmale , schwarze Höfe, im Vorden Teil notdürftig mit Ziegelbruch gepflastert, der sich leicht auch lockerte. Hier waren Leinen über uns gespannt und manchmal flatterte die Wäsche im Wind, aber wehe wenn es regnete! Die Wäsche drohte, wieder dreckig, schwarz zu werden! Schnell rannten wir dann nach unten, um sie zu retten. Es gab eine Teppichstange, wo wir noch zweimal im Jahr den größeren Teppich klopften, die Läufer etwas öfter. Daneben standen große Aschentonnen, die alles beinhalteten, auch Essensreste, und die gerne und mühelos von den großen Ratten aufgestemmt wurden. Es konnte passieren, dass einem eine Ratte entgegensprang, wenn man nur den Ascheneineimer ausleeren wollte …

Trotzdem konnte man auch hier spielen …, und wir spielten.

Über das kleine Mäuerchen neben dem kleinen Holzschuppen kletterte ich zuwielen auf das benachbarte Trümmergrundstück, das zur Straße hin von Plakatwänden verdeckt war. Hier ließ sich wunderbar „Vater, Mutter, Kind“ spielen. Es gab wilde Kräuter und  Erhebungen und Senken, auch kleine, schaurige Funde regten die Phantasie an. Später wurde alles eben gemacht und es wuchsen keine Kräuter mehr, sondern durch den eingeebneten Schutt füurte eine Art Durchgang zur Barbarakirchen. Später wurde er sogar asphaltiert.

 

Und wir spielten …(Am Geburtstag …) Hier gab es sogar schon einige Grashalme …

 

Zur weiteren Erinnerung an das Umfeld schaut gerne noch einmal in den letzten Beitrag:

https://petras-lyrik-blog.de/im-pott/