Essen, Fußgängerzone 1973

September 14

Essen, Fußgängerzone 1973

Jeden Morgen wurde Willi aus seiner engen, vermieften Wohnung in die Fußgängerzone, Kettwiger Straße, gebracht. Sein Standort war zwischen der großen Buchhandlung Baedeker, vormals Jordan und dem alten, vornehmen Kaufhaus Peek&Cloppenburg, vormals Gustav Blum. Hier wurde er auf seinem kleinen Rollwagen, auf dem er ohne Beine mehr stand als saß, postiert. Ein Oberkörper in Lederjacke, mit grauem Haar, verquollenen Gesichtszügen und sehr ausdrucksvollen, schmerzerfüllten, durchdringenden Augen, die manchmal, wenn er seine Beine und Füße immer noch zermalmt fühlte, auch morphiumverschleiert blickten, aber immer sehr anteilnehmend am Geschehen auf den Straßen.
Willi war ein Mann aus dem letzten Weltkrieg, Soldat, Opfer, jedenfalls ein Relikt, das immerzu daran erinnerte, und an dem man deshalb gerne vorbeieilte, auch um sich seine Körperlichkeit nicht näher vorstellen zu müssen, oder durch seine Augen verwirrt zu werden.
Ja, man eilte. In Jeans und Schlaghosen, in Superminiröcken, in Pumps, in Midiröcken, in alten Mänteln, fett und alt geworden, verschüchtert alt geworden in alten Trenchcoats. Man eilte mit Plastiktüten in den Händen – Zeit des Wirtschaftswunders, immer noch.
Kaum jemand sah in die Gesichter. Es war ein anonymes Gedrängel und Geschiebe, Geschubse an Wühltischen bei Peek&Cloppenburg und natürlich Woolworth, genannt „Wollwot“. Einzelne Versonnene standen vor den Büchertischen von Baedeker.
Er erinnerte sich gut an eine andere Buchhandlung hier in der Fußgängerzone, die Bücherei Jordan, eine renommierte jüdische Buchhandlung.
Menschenströme fluteten an ihm vorüber und doch, er hatte gelernt, Einzelne herauszukennen. Zum Beispiel eilte etwa ein Jahr lang ein bleichgesichtiger, aufgedunsener, etwa Mitte dreißigjähriger Mensch an ihm vorüber, mit schwarzer Aktentasche, Mantel und Hut. Er drehte sich oft angstvoll um und über sein Gesicht flossen Schweißbäche. Willy kannte solche Gesichter. Wie erstarrt passierte er „Tchibo“, wo er anscheinend den Tod in Person erwartete und verschwand dann um die Ecke.

Einmal täglich sah er von der schräg links gegenüberliegenden Münsterkirche her die schwarz gewandete Figur des alten Pastors mit rotem, mildem, langem Gesicht, großen, verwunderten, blauen Weitsichtaugen hinter der Brille und spiegelnder, roter Glatze den Weg zur Buchhandlung nehmen. Er hielt stets kurz bei ihm an und warf eine Münze in den aufgestellten Hut, lächelte zaghaft und verschwand im Geschäft, dass er nach ungefähr einer dreiviertel Stunde wieder verließ. Konnte dieser Greis wirklich die ganze große Gemeinde überblicken?
Ebenfalls von dort kam aus dem Kreuzgang häufig eine Gruppe junger Leute, die nicht gerade sehr fromm aussahen – eher anzüglich gekleidet, sehr mini – mini …, die Jungens recht frivole Witze reißend, eng umschlungen mit den Mini-Mädchen, von denen eine aber jedes Mal sehr auffällig mitleidend zu ihm herschaute.
Auch der junge, zarte, schwarz gelockte Kaplan eilte häufig hier vorbei, mit lustigen, etwas hervorquellenden Augen hinter der schwarzen Brille, und er hatte ein rasches, weiches Lächeln für ihn. Na ja, nicht ganz ernst zu nehmen, der.
Immer wieder streifte ein widerlicher Kerl mit sehr gelben, fetttriefenden, halblangen Haaren, dicken Lippen und gelben Zähnen, mit rotem Gesicht und Plastiksonnenbrille durch die Straße. Er schien schon betrunken zu sein, oder irgendwie besessen und unheimlich. Er schlich mit hochgezogenen Schultern und eingezogenem Kopf und starrte gierig den Mädchen hinterher oder auch ins Gesicht.
Die Kriegsinvaliden und die staubkranken Bergbauinvaliden versammelten sich vor der Lichtburg schräg rechts gegenüber, dem alten großen und berühmten Kino, und holten ihn oft zu sich. Das war gut, sie waren zusammen ein komischer Haufen: Einarmig, einbeinig, oder keuchend und bleich, aber sie hielten auf eine Art zusammen und wussten immer irgendwas, z. B. über die Gewerkschaften und Ämter, zu reden.
Morgens fluteten graue, griesgrämige Gestalten mit zerknitterten, fetten Gesichtern in Richtung Bahnhof, zur Arbeit oder wer weiß, wohin mit dem Zug, und abends wallte diese graue, tote Welle wieder zurück.
Dazwischen, wie bunte Tupfer, immer wieder mal so Hippies, langhaarig, bekifft. Manche saßen auf den Betoneinfassungen der wenigen winzigen Bäumchen und klimperten auf der Gitarre.
Es gab die Rocker. Vor denen fürchtete er sich auch … Nichts und niemand war sicher. Mit Lederkleidung und Springerstiefeln, mit Schlagketten oder Stöcken marschierten sie finster vorüber, rempelten willkürlich jemanden an.
Und dann die Ausländer natürlich. Itaker, die machten neben dem Dom eine Eisdiele auf! Und man hörte von sogenannten „Pizzerias“, das Allerneuste!
Jugoslawen, schufteten unter Tage und wohnten in den alten Wohnungen, man wußte schon. Türken: „Ich Türke – nix verstehn!“ War das geflügelte Wort, wenn´s unter Tage darum ging, Verantwortung zu übernehmen, wie er von den invaliden Kumpels hörte. Von Polen konnte man ja nicht mehr als Ausländern reden – der halbe Pott war Pole oder Russe …
Es gab einen Würstchenstand an der Burgplatztreppe, ab und zu den Leierkastenmann, auch so ein Relikt aus der Vorzeit …
Erschreckend war, wie tot sie alle zusammen aussahen, trotz der überquellenden Geschäfte, wie kontaktlos und uninteressiert, wie abgehetzt und überfordert, wie überfressen auch viele waren. Wie trostlos traurig so viele immer noch schauten. Auf der Bank bei Baedeker wurde mit Drogen gedealt, das sah er und natürlich auch die Polizei, die immer mal wieder auf und ab patrouillierte, auch mit Schlagstöcken an der Seite.
Gegen Sechs, wenn die Arbeiterflut vorüber war, fluteten die Einkaufsmuttis mit Taschen und Tüten nach Hause, oft müde Kinder im Schlepptau. „Was ist das, Mami?“, fragten sie und zeigten auf ihn. „Sei ruhig, Kind, da guckt man nicht so hin!“, war die gängigste Antwort.
Und natürlich sah er genau gegenüber den großen, weiten Burgplatz, zu dem über fünfzig Meter breite Treppen hinunterführten. Rechts neben der Treppe das überlebensgroße Kaiser Wilhelm Denkmal, Reiter Denkmal! Links neben der Treppe, direkt neben dem Eingang zur Anbetungskirche, Golgatha, in Stein. Drei überlebensgroße Kreuze mit steinernen Leichnamen daran.
Der weite Festplatz mit seinen Fahnenstangen. Für Versammlungen und Aufmärsche verschiedenster Art bestens geeignet. Inzwischen meistens Fronleichnamsgottesdienste, aber auch schon mal eine Militärkapelle oder sonstige Blasmusik, mit dröhnenden Paukenschlägen, selten Schülerversammlungen vom Burggymnasium am Platz.
Und weit hinten, jenseits des Platzes, sah er das grüne Dach der Synagoge schimmern. Na ja, war jetzt ein Plakatmuseum oder so was. Nur noch von außen Synagoge. Was sollte das auch, es waren ja alle Juden raus. Ach so, irgendwo da bei der Ruhrallee gab’s wieder so ein kleines Bethaus, schien´s zumindest. Aber das Judenmonopol hier war wohl ein für alle Male gebrochen…
Er hatte quälende Schmerzen in den Beinen, die gottverdammich doch gar nicht mehr da waren …
Morphium einwerfen. Gut, dass er nicht zu Hause in dem Mief war.
An solchen Tagen verschob sich oft die Realität ein wenig, als würde hinter den Bildern des Burgplatzes, wie er war, die Synagoge, wie sie war, auftauchen, was früher dort war, und was er ja auch gesehen und gekannt hatte.
Der Platz mit Hochaltar auf der Bühne und Scharen von weiß-roten Messdienern und bunt gewandeten Priestern, die Weihrauch in alle Winde wedelten, veränderten sich in Aufmärsche von braunen Uniformen, zackigen Reden, hocherhobenen Rechten, Heil-Rufen.
Der Platz – ein Sammelort für Elendsgestalten mit Bündeln und Taschen, die zusammengepfercht standen, saßen und lagen und auf die Deportation warteten.
Der Platz hinterm Platz – direkt vor der Synagoge. Inzwischen der Porscheplatz, ein großer, leerer Raum mit Schienen und Haltestellen, Bahnsteigen. Man wußte gar nicht, wie man über die breite Verkehrsstraße kommen sollte.
Da wohnte früher ein Gutteil der jüdischen Gemeinde, die vielen kleinen, jüdischen, koscheren Geschäfte, die Bajgelverkäufer, Schuhputzer, die Arbeiter in der Schwerindustrie, polnische Juden, Galizier, Russen, eingewandert vor 1914.
Wie viel Leben, Musik das damals war, wie viele Geschichten erzählt wurden, wie viel Hoffnung er erlebt hatte bei den jüdischen Nachbarn. Zusammenhalt, neuer Anfang, neue Heimat.
Wo waren die Rots und Blaus und Weiß und Lichts, die Jordans und Wertheims, die Blums, Meyers und Kramers. Lewys, Sterns, Oppenheimers, Heimannns, Jakobs, Gottschalks, Adeles …? Die Kaufhäuser und Geschäfte, Buchhandlungen? Die Künstler und Gelehrten?
So unheimlich war das damals. Zusammengetrieben wie Vieh waren sie und dann weiter zum Bahnhof – ab in Güterwagen, das klappte wie am Schnürchen. SS stand mit Schlagstöcken überall, die Eisenbahngesellschaft spendierte großzügig die Wagen, die die Banken mit den Judengeldern bezahlt hatten, das Personal half beim Verladen mit. Die Nachbarn hielten Maulaffen feil oder versteckten sich gramvoll.
Klar, es wurden etliche versteckt! Und es gab sie auch danach noch dazwischen. Hatten sich unauffällig daruntergemogelt, gemischt mit Ostpreußenflüchtlingen und ausländischem Gesocks, auch andrem Gesocks, eine ganz besondere Mischung …
Sie waren ab- und vereinzelt wieder aufgetaucht und zum Teil ganz schön verrückt. Auch von den besseren deutschen Juden kamen einige zurück. Alle verhielten sich möglichst unauffällig. Viele waren ja rechtzeitig geflohen, zum Beispiel nach Belgien, von da aus weiter nach Amerika ausgewandert.
Herrgott noch mal, ja! Er hatte sie gekannt und mit ihnen gelebt, es waren Nachbarn, beste Freunde, Spielkameraden, Arbeitskollegen. Da war sogar der Hausarzt, der Milchmann, das Warenhaus, wo´s für Arbeiter billiger war … es waren so Viele hier!
In einer Nacht brannte die Synagoge lichterloh! Die Geschäfte waren zerstört, eingeschlagene Fensterscheiben, beschmierte Wände. Die Freunde und Nachbarn in heller Aufregung.
Dann wurde er eingezogen in diesen zweiten Krieg, trotz Familie, die zu versorgen war! Er war an die Vierzig und es ging nicht lang bis zu seiner Verletzung – beide Beine weg! Irgendwann war er wieder da und begann, diesen Standort aufzusuchen. Von hier aus sah er alles mit an… Und dann … waren sie ausgebombt … Und dann … wies man sie in die Wohnung der ehemaligen Nachbarn ein … Deren Einrichtung war vollständig darin vorhanden … Das war so gut und so schrecklich zugleich!! Die Wände seufzten und sahen mit tausend fragenden Augen auf sie. Hier war es kaum auszuhalten …

„Was wissen schon diese jungen Nüsse davon, die hier vorüberwallen und mit Drogen und Sex ihre Langeweile ersticken? Sie wollen es nicht wissen. Na ja, wir haben gebüßt, oder?“, dachte er. „Irgendwann ist auch Mal was verjährt und jetzt sind wir ja verändert, wir Deutschen. Von uns kommt jetzt Qualität: Made in Germany!“ und ein „Jawohl“ schlüpfte ihm unversehens über die Lippen. Doch das hatte niemand mitbekommen. Nie mehr würden wir Deutschen so was mitmachen! So zugucken. Solche Menschenmassen, die doch alles hätten aufhalten können … Wie konnte das sein? Nee, nee, das war wirklich vorbei, mussten sich halt alle erst mal erholen und verdrängen, erst mal wieder Kräfte sammeln, dann würde das schon wieder schön.

Die Vision war vorbei, er sah auf. Die junge Freundin von dem einen Kirchenbengel, die in den Miniröcken, die immer so mitleidig hersah, stand vor ihm und schaute ihm sinnend ins Gesicht, lächelte schüchtern.

Was ist das denn? Weiß die doch was?
Es kam ihm fast so vor. Sie öffnete den Mund und ein kleines „Hallo“ kam hervor.
„Hallo“.
„Wie ist das für Sie, jeden Tag hier zu sein?“
„Na ja, das ist mein Platz, bin ich doch gewöhnt. Ich kenn Viele“, antwortete er.
„Echt?“
„Nee, das nicht, aber manche seh ich immer wieder und man kann ja auch ein bisschen dahintergucken …“
„Ja?“
„Ja.“
„Ich auch … Bei wem Sie denn?“
„Naja, bei dem Typ da, mit den gelben Haaren und der Sonnenbrille.“
„Das ist ja nicht schwer!“, lachte sie.
„Meinst Du? Du siehst nur das, was er ist, aber nicht warum, oder?“
„Stimmt eigentlich, aber der kann mir nun mal nicht leidtun, egal, warum der so ist.“
„Sag das nicht, Mädchen, wenn du alles wüsstest …“
„Ich weiß ganz schön viel, wissen Sie?“
„Hm. Wie heißt du denn?“
„Ich? Lena“
„Was? Ist das ein deutscher Name?“
„Nein, aber besser als so altbacken, Wilhelmine zum Beispiel. Ich find auch gut, dass er mit a aufhört, so herzoffen irgendwie.“
„Aha! Hm!“
„Und Sie?“
„Willi.“
„Wie mein Lieblingsonkel. Aber das viele i schwebt immer so ein bisschen drüber, find ich.“
„Da kannst du Recht haben, muss ich ja auch. Außerdem heißen doch Viele so.“
„Hmm.“
Sie setzte sich auf die Betoneinfassung vom Blümchenbeet. „So, jetzt ist sie erst mal da“, dachte Willi.
„Brauchen Sie die Groschen?“
„Nee, ich krieg doch Kriegsversehrtenrente, aber es ist besser für die Leute, dass sie sich denken können, warum ich hier bin. Ist auch nicht so schlecht für zu Hause, n´ bisschen Zubrot.
„Also, Sie haben ein Zuhause?“
„Natürlich. Meine Frau. Wir sind bei meinem Sohn in der Wohnung. Dieselbe Wohnung, die wir schon im Krieg bekommen haben.“
„Ja, kenn ich, so was. Wir wohnen auch schon seit vor dem Krieg in der Engelbert.“
„Du doch wohl nicht?!“
„Eigentlich nicht, aber ich kenn die Geschichten so genau, dass es mir so vorkommt.“
„Wo denn da?“
„In der Einundfünfzig, das letzte Haus vor dem Trümmergrundstück, dann kommt Elisenplatz und Barbarakirche.“
„Das?“
„Klar!“
„Das ist ein ganz schön verrücktes Haus, weißt Du das?“
„Ja, ich weiß. Wir ziehen bald aus, das Haus wird abgerissen, dann kommen wir alle woanders hin.“ Lena blickte sich um und fuhr fort:
„Ist schon sehr besonders, wer da alles wohnt!
So besonders, dass ich kaum jemanden aus meiner Klasse einladen kann. Seit ich ins Gymnasium gehe, erst recht nicht mehr. Vor allen Dingen, dass es wie ein offenes Buch ist. Keine Klingeln unten, nur eine Klinke drücken und Du bist drin. An den Wohnungstüren gibt’s auch keine Klingeln und was noch besonderer ist: Die meisten Türen stehen offen und wir wohnen ganz oben. Da gehst du echt an den dollsten Szenen vorbei, bis du oben bist. Und dann erwartet einen vielleicht noch meine Oma oben auf der Treppe, weil sie was gehört hat, mit abstehenden Haaren und zischend fluchender Stimme.“
„Aha?“
„Ja!“
„Ich kenn Viele von früher, ich wohn doch um die Ecke.“
„Kennen Sie die alte Frau Kremer?“
„Jaa – die Kremersche – eine ganz schön merkwürdige Frau. Und sie hatte dann den kleinen Jungen. Mein Gott.“
„Mein Vater.“
„Das war vielleicht ein Armer! Immer nur zwischen den total verrückt gewordenen Weibern, vor allem die Mutter. Durfte noch nicht mal draußen spielen oder Freunde haben!“
„Ich weiß“, antwortete Lena leise.
„Aber durchgebracht hat sie ihn nach dem Krieg. Hat mit Hexenzeug gehandelt, auch geklaut. Und dann hat sie für Leute Briefe geschrieben mit ihrer Schönschrift. Und so was. Sie konnte einen dann plötzlich wegstoßen, wenn sie genug wusste und das dann gegen einen verwenden. Gefährliches Frauenzimmer …“
„Ich kenn die Geschichten. Und ich erleb meinen Papa. Er hat jetzt Verfolgungswahn. Das kommt von der Kindheit und von der Zeche, wissen Sie? `Da unten sind andere Gesetze´, hat er immer gesagt; `Das könnt ihr gar nicht nachvollziehen! Hier oben ist alles Glitzer und Kitsch, und ihr lasst Euch blenden, geht dem immer Mehr! Mehr! auf den Leim. Aber da unten – ist´s dunkel und schwarz, nicht nur äußerlich. Da gelten noch andere Gesetze. Was meint ihr wohl, es gibt Steiger, die sind alte Nazis, haben sich irgendwie ihren Persilschein gekauft, die machen uns nach Strich und Faden fertig!`
Ich hab ihn dann gefragt, warum sie sich nicht wehren?
`Was du dir denkst! Die machen einem das Leben nur zur Hölle! Der Kumpel ist der Arsch der Welt. Nä, ich versuch immer, alles bestens auszuführen, aber da komm ich halt auch immer dran.`
Und die anderen?
`Stellen sich doof! Ich Türke, ich nix verstehn, ich zwei linke Hände.
Mensch, ich brauch die Arbeit doch, muss dich doch großziehen. Sonst würd ich lieber Penner werden als das!
Dann hab ich mich mal gewehrt, bin einfach nicht mehr hingegangen, auch aus Angst. Das war dann „Kontraktbruch“. Aber damit ging´s erst richtig los.
Sie machen mich psychisch fertig jetzt, bedrohen mich überall.`“
Lena holte einmal tief Luft.
„Keiner hatte ihm das geglaubt. Nur ich… Habe immer mit ihm gesprochen. Ich hab´s auch gefühlt und verstanden. Meine Mutter will das nicht hören. Sie denkt, er spinnt und es ist alles vorbei und gut, jetzt geht’s doch nur noch aufwärts und wir sparen für ein Häuschen, für die Anzahlung halt.
Aber nichts ist vorbei.“
Willi nickte kaum merklich und hörte ihr weiter zu.
„Ich merk das doch auch in der Schule. Die alten Nazilehrerinnen. Na ja, jetzt sind schon Jüngere dabei, die echt klasse sind. Aber am Anfang – und auch jetzt noch. Unheimlich …
Oder wie die Ausländer behandelt werden bei den Ämtern. Meine Mutter geht manchmal mit einem wohin, aber die blickt ja selber nicht durch und kommt meistens heulend wieder nach Hause, weil sie wie der letzte Dreck behandelt wurde.
Einsehen will sie trotzdem nicht, dass mein Papa Recht hat. Das wäre ja auch zu unheimlich. Jetzt wird es auch immer schlimmer. Wir können nichts mehr sprechen in der Wohnung, er denkt, überall sind Wanzen. Er fürchtet sich vorm Regenschirm – eingebauter Fotoapparat. Durchs Radio und Fernsehen wird verdeckt zu ihm gesprochen und er antwortet darauf! Wohin er auch geht, woher er auch kommt, er sieht Menschen mit Fotoapparaten, auch mit Pistolen und Messern, die ihn verdeckt bedrohen, sodass kein andrer es sehen kann!“, ereiferte sich Lena kopfschüttelnd
„Jetzt hat er gerade eine Stelle drüben im Deutschlandhaus. Wurde nach langen Psychiatrie-zeiten kurz umgeschult zum „technischen Zeichner“. Ich glaub, die ziehn ihn nur so mit durch, weil meine Mama den Chef kennt. Sie putzt bei ihm. Ist ja auch gut gemeint. Der geht auch jeden Tag hier vorbei.“
„Ich glaub, ich kenn ihn. Geht bei Tchibo um die Ecke wie ne halbe Leiche“, antwortete Willi und deutete in die Richtung.
„Ja, das ist er. Da stehen immer welche. Da lauert der Tod auf ihn.“
„Genau so sieht er aus. Mensch, Mädchen, da hast du ja auch schon dein Päckchen.“
„Stimmt. Ich hab´s auch noch nie jemandem erzählt, ist einfach zu peinlich, wenn jemand merkt, was wirklich abläuft bei uns. Meine Mutter ist halt Caritashelferin, sie hat die Gemeinde, ist gut katholisch.
Ich bin auch fit in der Gemeinde. Immer vorne dran. Nach außen.“
„Und nach innen?“
„Das fragen Sie mich? Lieber nicht – ich hab selber auch schon meine Geschichte, die keiner wissen darf. Was meinen Sie wohl, was in dem katholischen Jugendheim abgeht !!?“
„Ich denk mir was, wenn ich eure Clique hör und euch so seh.“
„Denken Sie sich das Schlimmste, dann kommt´s ungefähr hin.
„Und kannst du dich nicht wehren?“
„Nee, nee, die machen mich fertig, wenn was rauskommt. Würde mir ja auch sowieso keiner glauben. Das sind doch alles gestandene Eltern aus der gehobenen Pfarre von denen! Und ich komm aus der Verrückten-Ecke da oben. Und dann kann ich meinen Eltern das auch nicht antun. Was denken Sie, was dann passiert, wenn da noch eine Belastung dazukommt?“
Willi schaute Lena an und meinte: „Du machst das alles mit dir alleine aus?“.
“Ja, ich muss meine Eltern einigermaßen bei der Stange halten, ihnen helfen. Ich versteh das auch alles! Der ganze Krieg, dabei beide ohne Vater aufgewachsen und so weiter. Aber manches ist auch dunkel für mich. Meine Oma hat sieben Kinder abgetrieben und meinen Opa an der Front tot gebetet, wie sie erzählt. Warum? Warum ist sie so böse? Und warum muss ich trotzdem alle lieben? Sehen Sie, das geht nicht, dass ich da auch noch Probleme mache. Ich muss mit meiner Angst alleine fertig werden. Meinen Sie, ich hätte keine Angst? Und wie !! Todesangst und immer schon … Ich hab alles mitgekriegt, wir hatten ja nur ein Schlafzimmer, dazu noch ein Wohnzimmer. Ich kann das jetzt nicht alles sagen, es ist sowieso ganz schön … ich hab noch nie so viel zu jemandem gesagt! Bitte nichts weitererzählen!“
Willi schluckte kurz und versicherte ihr dann:
„Ist so, als hättest du zu einem Toten gesprochen. Was ist mit dir in dem komischen Jugendheim?“
„Meine Güte, das kann ich doch nicht sagen, was da abläuft und wozu ich mich gezwungen fühle. Können Sie sich denn nichts denken?“
„Doch. Ich hab ja auch schon Vieles gesehen. Hab nur irgendwie gedacht, jetzt kommt was Neues.“
„Das wird wohl noch dauern! Aber ich will da raus, irgendwann, das ist klar!! Ich reiß mich irgendwann los, irgendwie … Warum soll´s nicht ganz was anderes geben? Scheiß Jugendheime, scheiß Altenheime und scheiß Psychiatrien – das ist auch so ein Thema!! Warum nicht ein Ort, ein Dorf, wo alle sich helfen, wo alle zusammen da sein können??“
„Träum schön weiter. Na, bist ja noch jung. So toll wird´s nie werden. Eher umgekehrt.“
„Nein, das will ich nicht, ich nicht!!“
„Hör mal, da kommt was, Mädchen. Was ist das? Du siehst mehr!“
Lena stand auf, schaute in Richtung Hauptbahnhof. Man hörte Schreie, schwere Schritte, Rennen, Kettenklirren. Die Geräusche kamen schnell näher, plötzlich waren sie da. Genau vor Baedeker stürzte ein schwarzhaariger Ausländer zu Boden, drei Rocker fielen über ihn her und schlugen mit Schlagketten auf ihn ein, die an den Fäusten befestigt waren. Er versuchte, sich zu erheben, sich zu schützen, doch das gelang ihm nicht. Sie schlugen. Im Nu stand eine Traube von sicherlich fünfzig Menschen um die Szene herum. Sie standen still und glotzten, im Kreis wurde weiter geprügelt.
Da trat das Mädchen in den Kreis und schrie: „Aufhören, hört doch auf!!“ Blitzartig wandten sich die Rocker ihr zu. Sie wurde von hinten zurück gerissen in den Kreis, der sich vor ihr schloß.
„Mädchen, bist du verrückt?“, sagte eine Stimme hinten unten. „Die machen dich auch alle.“ Zustimmendes Murmeln. Nicht einmischen! Gefährlich! Schluchzend und entsetzt stürzte Lena davon.
Vom Porscheplatz her ertönte das Martinshorn. Zu spät! Sofort hätte man was machen müssen. Alle!
„Das kann ich zu Hause auch nicht erzählen“, dachte sie und weinte vor sich hin.
„Meine Fresse, jetzt können sie den auch nur noch vom Pflaster kratzen“, dachte Willi.
Die Leute waren weg, die Rocker auch. Vor ihm lag ein Blutklumpen. Das brachte etwas in ihm in Bewegung. Schmerzen! Überall, nicht nur in den Beinen. „Ich könnte weinen“, dachte er. Aber die Schleuse war noch zu.
„Das arme Kind“, dachte er. „Wenn die jetzt noch wüsste, dass die Synagoge auch nicht nur ein Denkmal ist, wo jetzt Plakatausstellungen laufen.
Und dass wir in deren Wohnungen wohnen.
Irgendwann wird sie das wissen, wenn sie nicht so zu macht wie wir.“

 

Die Wirklichkeit
Die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Nicht so viel anders. Den „Willi“ gab´s und alles Beschriebene auch. Ich nahm ebenfalls oft Kontakt auf zu „Bettlern“ oder Invaliden, an denen alle anderen vorbeirannten. Es gab Gespräche, ich nahm Anteil und wollte dadurch etwas Wärme spenden in dieser grausigen, kalten Stadt. Allerdings habe ich das Umgekehrte niemals erlebt, dass jemand auch mich gefragt hätte, wie es mir geht. Auf der Straße nicht und nirgendwo. Und wenn, dann nur lauernd, ob ich auch nichts aus der Rolle Fallendes veranstalte.
An diesem Tag ging ich die Kettwiger in Richtung Dom, vom Bahnhof kommend herunter, als ich hinter mir das Rennen und Keuchen hörte und dann zusammen mit den Rockern und dem Gejagten vor Baedeker eintraf. Sie begannen wie beschrieben zu schlagen und der Menschenkreis bildete sich auch so, wie beschrieben verlief alles genauso. Die gut gemeinten Worte raunte mir jemand aus dem Kreis zu, der mich zurückgezogen hatte.
Die Synagoge war ein „Museum“, an dem wir aber immer nur schnell auf der anderen Straßenseite vorbeigingen und niemals hinein, obwohl wir so nah daran wohnten. Ich wusste nur, dass sie in einer Nacht gebrannt hatte und seitdem „umgebaut“ war. Aber die Blicke meiner Eltern, besonders meines Vaters, der es als 4-jähriges Kind mit eigenen Augen gesehen hatte, sagten Vieles mehr, was ich nur fühlen und nicht verstehen konnte.
Ja, seit heute weiß ich es definitiv, dass meine Oma mit meinem Vater an der Hand dort nicht nur vorbeigegangen war, sondern den Brand als Passantin beobachtet hatte. Ich weiß jetzt auch, dass beide Judendeportationen gesehen haben. Wie auch nicht? Sie wohnten in nächster Nachbarschaft.
Das „Wir wussten das doch nicht“ war trotzdem ein allseits beliebter und oft wiederholter Satz.

 

 

Wenn ihr mehr lesen möchte, lest hier gerne weiter: https://petras-lyrik-blog.de/essener-duft/

Und alle anderen Prosatexte

Wer in Die Fußgängerzone hineinshcauen möchte, kann sich hier durchklicken: https://www.youtube.com/watch?v=BhJ34n6tE3M