Am Essener Hauptbahnhof bin ich neulich umgestiegen. Der Zug war verspätet und so der Anschlusszug versäumt. Ich ging durch den Hinterausgang „Freiheit“ und dann unter die Eisenbahnbrücke. Schlagartig schmecke ich den typischen „Essener Duft“. Abgase-Eisen-Kohle-feuchtes, vergehendes Laub, alte Abfälle, Erbrochenes, Bratwurstduft von der Bude um die Ecke…
Hauptsächlich dieser strenge Eisen-Abgas Duft, der den Atem direkt hinter der Nase stocken lässt…
In die Stadt gehen
Mama schlägt den Mantelkragen so hoch wie möglich und presst ihn, ein Taschentuch zuunterst, gegen Mund und Nase. Ich soll es ihr nachmachen, das ist wie ein Filter …aber ich bekomme schlecht Luft, rieche auch diesen „Essener Duft“ ganz gerne.
So gehen wir „in die Stadt“, das heißt einkaufen bei dem neuen, großen Aldi, wo die Einkaufswagen hoch vollgeladen werden oder auf dem Markt am Koppstadtplatz, mit rufenden Marktleuten. Wir gehen auch Schuhe kaufen in der Limbecker Straße, die ganz eng und schmal ist und dicht mit Geschäften besetzt. Dabei müssen wir an dem Spielzeuggeschäft Roskothen vorbei, meistens zieht sie mich mit Gewalt vorwärts, weil ich unbedingt die Schaufenster anschauen will … Ich träume von einem Sclhlummerle mit dunkler Haut, ein helles habe ich schon, aber das bekam ich nie. Oder von diesem super großen Kaufladen, der auch nie bei mir landete. Wohin damit auch? Manchmal gewinne ich das Ziehen und drücke mir die Nase am Schaufenster platt.
Dann geht es weiter durch die enge Straße. Ich weiß natürlich nicht, dass hier vor dem Krieg so viele Geschäfte jüdisch gewesen waren. Aber alle Omis, die hier rumliefen, mussten es doch gewusst haben? Auch meine…
Sehr oft werden wir Schuh-fündig bei Grüterich Sein damaliger jüdischer Besitzer war Robert Samson gewesen, was ich natürlich nicht weiß. Er wurde 1938 zwangsenteignet und das Geschäft an die Firma Grüterich verkauft.
Warum schreibe ich das? Ich wusste doch nichts als Kind – aber eine solche Schwere legte sich auf mich in dieser Straße, die vielleicht doch mit mehr zu tun hatte als dem typischen Essener „Duft“, der schlechten Luft also, oder dem anstrengenden „shoppen“ und der Anspannung meiner Mutter.
Hier wird mein Fuß dramatisch „durchleuchtet“, bevor die Modelle gebracht werden und auch danach, mit Schuh. Ich versinke in einen Polstersitz und warte demütig. Leider sind es meistens sehr bequeme Modelle, die ankommen, weil meine Mutter das so will, und später dann auch noch Einlagen hineinpassen müssen. Heute bin ich ihr sehr dankbar dafür, aber damals begehrte ich zarte schmale Sandalen oder Lackschühchen, irgendwas für eine Prinzessin halt. Aber auf meine Füße achtete sogar mein Vater: Eine sehr wichtige Zukunftsinvestition sei das. Beide Elternteile hatten „kaputte“ Füße, was natürlich mit dem Krieg zu tun hatte, bei Mama auch mit dem Tanzen in Pumps … sie war nach dem Krieg als jugendliches Mädchen also so unvernünftig gewesen. So darf ich keinesfalls sein. Sondern vernünftig. Ich ertrage die Einlagenschuhe nur schwer, sie sind breit und plump und weinrot, während Mama immer noch unvernünftig ist und schmale Schuhe mit Absatz trägt, was sollen denn sonst die Leute in der Kirche sagen?
Grüterich war jedenfalls eines der größten jüdischen Schuhgeschäfte Deutschlands gewesen. Es gab dort eine alte Holzrutsche, die vom Erdgeschoss ins Kellergeschoss führte. Wie oft bin ich hinuntergerutscht! Das war wie eine kleine Entschädigung für das fürchterliche Suchen nach dem richtigen Schuhwerk und für den ganzen Stadtbummel, der mich jedes mal müde und benommen machte, total k.o. Hier war ein Ort, an dem an die armen, vom Einkaufen überforderten Kinder gedacht wurde, das war sehr schön.
Aber die neuen Besitzer mussten es doch gewusst haben?
http://www.steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat?sel=seg&function=Ins&anzeige=classic&inv=0157
Der Rückweg ist unerträglich. Mama schleppt Sachen und ich helfe so gut ich kann, mit einer großen Schuhtüte in der einen Hand, mit der anderen einen Henkel von Mamas Einkaufstasche gefasst. Die Taschentücher können wir nun nicht mehr vor die Nase pressen. Es hat angefangen zu nieseln und ich weiß nicht genau, ob überhaupt noch Sauerstoff genug da ist, neblig ist es noch dazu – Smog. Mit Kopfweh und schwer atmend kommen wir endlich zu Hause an. Noch die drei Stockwerke hoch – hoffentlich ist der Ofen nicht ausgegangen! Dann lasse ich mich in den einzigen Korbsessel fallen, während Mama alles wegräumt und schon davon spricht, dass ich ihr schnell beim Schnittchen schmieren für´s Abendbrot helfen soll. Ich bin so fertig! Will lesen und meine Ruhe haben, aber wo denn? Also schmieren wir Schnittchen und setzten sie dem Papa vor die Nase, der sich von der Morgenschicht erholt hat und schon vor dem Fernseher sitzt.
Nun sitze ich mit hochgezogenen Beinen im taubenblauen, abgeschabten Plüschsessel und schaue „Film“. In meinem Blickfeld sind nur noch der Fernseher und das Fenster. Halb hinter mir mein Vater, neben mir der längliche Couchtisch, jenseits davon die Couch mit Mama, die meistens selig einschläft, sobald es flimmert. Auf dem Tisch: Knabberzeug oder Schnittchen, auch manchmal Kuchen.
Die unwirtliche Welt um mich versinkt, ich verwachse mit dem Sessel, bin nur noch Hülle, verliere mich in der Geschichte, den Bildern, Stimmungen. Ich bin geflohen, aber nicht nur, denn ich lache, weine, rege mich auf, fürchte mich. Muss mich nicht mehr anstrengen und aufpassen, ständig aufpassen. Alle sind fest an ihrem Platz, es gibt keinen Diskussionsgegenstand, kein Problem. Wir schauen in die selbe Richtung, der eigene Seelenschmerz hört für kurze Zeit auf, den Ton anzugeben – Entspannung! Ich sehe die Berge, das Meer, fremde Städte und Länder, Tiere. Meine graue Nachkriegs Stadtwelt verblasst. Ich erlebe, ich lebe …
Sehr oft werde ich in diesem Sessel sozusagen gelähmt. In meiner linken Leiste schnappt etwas ein, und ich kann das Bein keinen Millimeter mehr bewegen ohne höllische Schmerzen. Das kann ich meinen Eltern nicht vermitteln, sie glaubten es schlicht nicht. Deshalb behalte ich es in der Folge für mich und ertrage den Zustand. Immer hat es sich ja irgendwann von selber aufgelöst durch eine winzige richtige Bewegung oder was? Einmal bin ich so in Not, dass meine Mutter sich schon angezogen hat, um zum Telefonhäuschen am Elisenplatz zu gehen und einen Notruf zu tätigen. Da löst es sich auf und mein schmerzverzerrtes Gesicht entspannt sich. Von da an darf ich dazu gar nichts mehr sagen. Ich ertrage Belfegor, EWG und anderes standhaft, es ist Entspannung, Lähmung und Schmerz gleichzeitig.
Cellounterricht
Mein größter Wunsch überhaupt je war ein Klavier, und darauf spielen zu lernen. Papa hatte ein Akkordeon, das er nicht professionell aber sehr inniglich bespielte und dazu noch sang, wofür ich ihn liebte ! „La paloma“, erklang, „In einem kühlen Grunde“, „Am Brunnen vordem Tore“ „Es steht ein Soldat am Wolgastrand“ und andere, meist traurig-sehnsüchtige Weisen.
Weil mein Wunsch so groß war, bekam ich eines weihnachtens eine Melodika an die man einen Schlauch mit Mundstück anschließen konnte. So konnte ich sie vor mich stellen, und mir vorstellen, sie sei ein Klavier. Das tat ich auch, aber ich war unzufrieden. In der Jugend Musikschule der Stadt Essen, für die ich vorgeschlagen worden war und die auch kostenlos war, gab es natürlich auch Flötenstunde, und weil ich das gut machte, ich hatte auf einer alten Blockflöte schon längst selber Lieder zusammengesucht, gab man mir dann noch Tenorflötenstunden und ich bekam eine preiswerte dunkle Moeck Tenor flöte.
Dann sollte ich mir noch ein weiteres Instrument aussuchen und auch in der Schule hatte meine Musiklehrerin Lust, mir ein Instrument anzubieten, sie wollte sich eine neue Cellistin für ihr Schulorchester heranbilden. Auf einem Schrank im Musikraum stand ein Cello. „Willst Du das lernen? Dann kannst Du das Cello ausleihen, umsonst!“ Ja natürlich! Wo hätte ich sonst ein Instrument herbekommen sollen? Ein Klavier war für uns unerschwinglich und natürlich hätten wir auch keinen Platz dafür gehabt. Das Klavier stand im Stadtwald, bei den Leuten, für die wir putzten. Das Cello passte aber in eine Ecke …
Von da an gehe ich zum Cellounterricht.
Oft gehe ich ganz zu Fuß, wenn es regnet fahre ich mit dem Bus von der Haltestelle Goldschmidt Straße und alle steigen feucht und dampfend ein. Mit dem Cello stehe ich meistens gedrängt im Bus, oder muss sehr balancieren. Viel größer als das Cello bin ich halt auch nicht. Am Bahnhof steige ich aus.
Ich sehe mich mit dem Riesencello in der Hand oder in den Arm gelegt von der Innenstadt herkommend unter der Eisenbahnbrücke durchgehen. Es ist kalt und windig oder neblig, das Cello schlägt mir fast aus der Hand. Auf der anderen Seite die Brauereien, eine große Kreuzung, die „Freiheit“, mit Straßenbahnknotenpunkt, Bushaltestelle. Links rüber die Autobahn im Bau. Diese überquere ich, gehe durch den Sand, schlüpfe unter der Absperrung hindurch, hinein in ein normales, aber edleres Wohnviertel, das hinter dem Ostfriedhof liegt, der für mich beängstigend nach Friedhofslilien und Leichenhalle riecht, in eine normale Schule gehe ich hinein, die nachmittags die Musikschule der Stadt Essen ist. Jeden Montag, Dienstag oder Mittwoch? Ich weiß es nicht mehr.
Ich ziehe die feuchte Jacke aus und hänge sie an einen der leeren Haken vor der Klasse. Hier riecht es sauber, nach Bohnerwachs und Putzmittel. Alles erscheint mir modern und neu, auch ganz anders, als ich es aus der Sessenbergschule und der Viktoriaschule kannte. Es sind eigentlich zwei Tage, an denen ich hier bin. An einem Tag ist Chor, mit Frau Pietsch-Amos, die ich sehr verehre. Ich liebe den Chor! Sie singt mit uns zum Beispiel Stücke aus „Petruschka“. Sie ist sehr geduldig und hat niemals Tadel für irgendwen, sondern nur Freude, die sie auch in mir entzündet.
Dann gibt es rhythmische Gymnastik. Ich hatte dafür leider nie die passende schön Hose, sondern hoppelte in rutschenden Strumpfhosen herum, leider! Nach Tamburinschlägen gingen, liefen oder galoppierten wir durch den Raum. Das war jetzt nicht so meine Lieblingsdisziplin.
An diesen Tagen gehe ich oft gemeinsam mit meiner Freundin Anna-Maria nachmittags los. Wir sind eigentlich müde, aber wir ergreifen die Chance auch gerne. Wir gehen durch die Ziegelstraße, an einer alten Mauer entlang, auf der mit alter Farbe auf schon bröckelndem Putz geschrieben steht: „Arbeiter tue Deine Pflicht und schieß auf Deine Brüder …“ „Nicht!!“ Ergänze ich die ganzen Jahre über jeden Tag, denn es ist auch mein Schulweg, die abgeblätterte Stelle. Es sieht aus wie mit Blut geschrieben und man sieht Einschusslöcher aus alter, alter Zeit …Trotzdem ist es mir durch die Schrift sehr nah, was hier geschehen sein muss. Wir kommen durch eine Unterführung an der Steeler Straße, über die Ruhrallee Brücke, an meiner Viktoria Schule vorüber. Anna- Maria ist leider auf der BMV gelandet nach der vierten Klasse, so dass wir ein Stück weit auseinandergerissen wurden. Um so mehr genießen wir den gemeinsamen Hin- und Rückweg und palavern drauf los. Oftmals auf dem Rückweg geraten wir in schlimmen Streit. Irgendetwas kommt mir immer komisch, übertrieben und falsch vor und ich sage das auch. Daraufhin wechselt eine von uns die Straßenseite. Das ist sehr schmerzlich, denn wir brauchen einander doch! Bevor unsere Wege sich trennen, kommen wir allerdings doch jedesmal wieder auf eine Seite und vertragen uns. Wie hätte es sonst weitergehen sollen?
Im Klassenraum, wo der Cellounterricht stattfindet, sind alle Stühle hochgestellt. Herr Herwig, mein Cellolehrer, hat zwei davon neben das Pult gestellt. Wir spielen und üben vor einer Klasse voller hochgestellter Stühle. Ich habe nicht so viel geübt, oder ich habe gut geübt und werde gelobt, ich habe im Laufe der Jahre die in mich gesetzten Hoffnungen und Erwartungen mal wieder nicht erfüllt, weil anderes meine Kräfte gebunden hat. Immerhin hat es dafür gereicht, acht Jahre lang im Schulorchester mitzuspielen und an Weihnachten in der Barbarakirche auf der Empore Stückchen zu schrummeln. Und ich liebte den warmen, tiefen Klang, das weiche, tröstliche Vibrieren des Holzes an meinem Herzen.
Sehr oft aber roch es während des Cellounterrichts, je nach Wind, so abartig beißend und eklig nach Brauerei.
Es riecht einfach nach meiner Stadt: Nach Nüchternheit und Not, nach Arbeit und Krankheit. Nach Leben ganz unten, aber mit viel Sehnsucht.
Nach Menschen, die sich nichts vormachen können. Nach Angst. Aber auch nach einem schmerzhaften zu Hause-Gefühl, das nie mehr mein zu Hause sein kann und es auch nie wirklich war – nach dem dunklen Pol des Lebens.
Im Gegensatz zum Stadtwald, wo ich viele Zeiten auf Mamas Putzstelle mit ihr verbrachte und wo es nach Wald roch. Baumgerüche, wunderbar!.
Wer mehr Erinnerungen lesen möchte kann gerne hier nachlesen:
https://petras-lyrik-blog.de/nachbarn-im-haus-engelbertstrasse-51/
https://petras-lyrik-blog.de/sie-schicken-mich-in-die-welt/
https://petras-lyrik-blog.de/gespraech-verboten/
Passwörter könnt ihr über die Kontaktadresse erfragen.