Sie schicken mich in die Welt

Diesen Text veröffentliche ich zu meinem Geburtstag 2021. Den ersten Teil, „Sie schicken mich in die Welt“ habe ich eingereicht beim   Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher im Rahmen eines geschichtlichen Schreibwettbewerbs. Natürlich habe ich nicht gewonnen, es wurde aber ein Buch mit vielen kleinen Erzählbeiträgen veröffentlicht, in dem auch einige Sätzchen von mir stehen.

Als ich begonnen habe zu erzählen, gab es die Initiaitve Verschickungskinder.de noch nicht und auch die Beschäftigung mit uns Kindern der Kriegskinder noch nicht. (Sabine Bode). Dahinein hätte dieser Text gut gepasst.

Ich finde es gut, wenn Ihr ihn lest, er ist natürlich auch sehr persönlich, ich gebe Euch Anteil an einem Stückchen Leben.

„Hau rein!“ Erinnerungen an Arbeit, Alltag und Leben im Ruhrgebiet

HANNOVER LINDEN *1972 Kinder aus Hannover fahren vom Bahnhof Hannover-Linden mit dem Zug ins Ferienlager und winken aus dem … | Historische fotos, Hannover, Bilder

Beginnt 2013

Hänschen klein ging allein

in die weite Welt hinein.

Stock und Hut steht ihm gut.

Er war wohlgemut!

Doch die Mama weinet sehr,

hat nun gar kein Hänschen mehr!

Da besinnt sich das Kind,

kehrt nach Haus geschwind!“

(Volkslied)

Sie schicken mich in die Welt

Vergisst sie mich?

Für immer allein

gelassen

steht

vor dem

Tor jemand und

wartet?

Fahren

wir wirklich

aus dem Kinderheim

heimwärts?

Wollen

sie mich

überhaupt richtig

kennenlernen?

Kann

ich irgendwann

in meinem Leben

allein sein

ohne zu Tode geängstigt zu sein?

Ich sitze hier auf dem Land, im Norden, und fühle mich hilflos wie als Kind, zum Beispiel, weil ich mich gegen die mehr als belästigenden Folgen der Landwirtschaftsindustrie in Form von Güllegestank nicht wehren kann!

An wen soll ich mich wenden, der Abhilfe schafft? Ich trat heute Morgen aus dem Bad in die Wohnung. Wir hatten kurz gelüftet mit Durchzug. Das hätten wir besser nicht getan, denn die Wohnung stank so abscheulich nach Scheiße, nach Ammoniak Gülle, dass auch schnelles Fensterschließen nichts mehr nützte. In Möbeln und Decken war der Gestank verhaftet und ich geriet in furchtbare Wut darüber, dem so ausgesetzt zu sein.

Genauso ausgesetzt war ich als Kind im Ruhrpott in den fünfziger und sechziger Jahren der Bergbau Industrie. Die Luft war staubgeschwängert und voller Abgase und Gifte. Wir Kinder waren schlecht dran, ganz zu schweigen von der Wäsche, die draußen schwarz wurde, dem schwarzen Schnee und den schwarzen Häusern. Wir schnäuzten schwarzen Rotz ins Taschentuch, unsere Atemwege und unsere Gesamtkonstitutionen ließen sehr zu wünschen übrig.

In langen Schlangen standen wir vor den Gesundheitsämtern und wurden reihenuntersucht und durchleuchtet. Viele von uns wurden dann vorgesehen für „Kuren auf dem Land“. So auch ich, und zwar als Erstes vor der Einschulung mit knapp sieben Jahren.

Zuvor hatte ich mit noch nicht einem Jahr erlebt, dass ich wegen einer sehr heftigen Ekzemerkrankung drei Monate im Krankenhaus von meinen Eltern isoliert wurde, das heißt, ich durfte nicht besucht werden, damit ich nicht „unruhig“ würde. So lag ich dort gefesselt, damit ich nicht kratzte. Das war mein erster Kontakt mit „der Welt“, und noch immer habe ich manchmal das immer gleiche Traumbild, dass ich mich im Gitterbett mit großen Augen still liegen sehe, dann auch ein Bild durch die Gitterstäbe auf ein anderes Bett an der Wand. Als ich das einmal vor einigen Jahren aufgearbeitet habe, stellten sich so unendliche Verlassenheitsängste ein, jämmerliches Weinen und Schreien und ein Verstummen und Fliehen. Ich versuchte, durch dieses Wiedererleben ein sehr kleines Mädchen, das verängstigt in mir hockt und nicht mitgewachsen ist, zu befreien. Ich besuchte sie immer wieder in ihrem Gefängnis und hielt sie auf alle erdenklichen Arten fest in den Armen. Ist es besser geworden? Dieses Gedicht entstand zu der Zeit:

Ich lieg allein in dunkler Nacht,

keiner, der mich behütet und bewacht.

Und das ist wirklich geschehen,

ich habe das Traumbild gesehen.

Ich lieg allein am helllichten Tag,

keiner, der mich berühren, mit mir sprechen mag.

Und das ist wirklich geschehen,

ich habe das Traumbild gesehen.

Ich mag nicht mehr weinen, nicht schreien

Ich werde schweigen

Keiner wird kommen, sich über mich neigen.

Am Besten, ich verlass dies Körperhaus

und ruhe mich woanders aus.

Und das ist wirklich geschehen,

ich habe das Traumbild gesehen.

Danach wurde ich mit drei Jahren in die weite Welt geschickt, nämlich in den Kindergarten. Das war ein „muss“ und keine offene Frage, ob es mir gefällt oder nicht. Ich ging halt dahin. Ich erinnere mich an viele Ängste und Verlassenheitsgefühle. Holt sie mich ab, oder vergisst sie mich für immer? Ich hatte kein Vertrauen, dass die „Tanten“ sich darum kümmern.

Was geschieht mit mir, wenn sie nie mehr kommen?

Da war Hans-Werner, vor ihm hatte ich große Angst, denn er war laut und wild und tobte auffallend oft gerade um mich herum … Was würde er mir antun? Endlich erbarmte sich meine Mutter über mein Klagen und sprach mit Tante Elsbeth, die versicherte ihr, Hans Werner würde mich „lieben“ und meine Nähe suchen. Das konnte ich nicht glauben, dass er mich lieben würde, aber die Angst verflog. Es blieb ein Satz: Wenn ich mache, dass sie mich lieben, bin ich sicher.

Ich liebte wirklich den Jürgen, einen etwas älteren schlanken und zarten blonden Jungen, der niemals tobte und mich wirklich umwarb und schon auf mich wartete, wenn ich morgens kam. Die erste große Liebe begann mit vier! Karneval kam ich als „Röschen“ und er war begeistert und beschützte mich, im Jahr darauf war ich „Sterntaler“, im weißen Nachthemd mit unzähligen Goldsternchen benäht. „Da kommt meine Braut“, empfing er mich. Ich fühlte mich in seiner Liebe sicher und war gewiss, ihn einst zu heiraten.

Er hatte einen jüngeren Bruder, Jochen. Nach ihm benannte ich meinen großen Bären, der ja auch mein kleiner Bruder war, denn einen großen, den ich gerne gehabt hätte, konnte ich halt nicht mehr bekommen.

Mein Jochen Petz war lebendig und sprach mit mir in meinem schlaflosen Bett. Er war auch Zärtlichkeiten gegenüber nicht abgeneigt, ließ sich drücken und küssen und sogar an den Ohren und an der Nase lutschen und abkauen … Er sah schon nach kurzer Zeit sehr „geliebt“ aus. Jürgens siebter Geburtstag kam und ich war als einziges Mädchen eingeladen. An jedem Platz stand ein winziges Gummitierchen, an meinem war´s ein Schweinchen. Das war auch ein Abschiedsfest, denn Jürgen kam nun in die Schule und ich noch nicht! Er würde auch nicht den Hort besuchen, und wir würden uns also nicht mehr wie gewohnt sehen. Aber an diesem Nachmittag war ich glücklich.

So war es, wir sahen uns nicht mehr, höchstens von Weitem. Irgendetwas hatte sich von seiner Seite her verändert, was ich nicht verstand. Meine Liebe blieb fest und so oft ich mich auch vordergründig verliebte, war sein Bild bestimmend für das, was ich in Zukunft ersehnte. Als ich mit dreizehn Jahren die Tanzschule besuchte, trafen wir uns wieder, und das war peinlich. Ich war sofort wie elektrisiert, er aber hatte eine Freundin, die ganz „bieder“ aussah und älter als ich … Auch er war schon so erwachsen und irgendwie in einer anderen Welt. Zwar begrüßten wir uns lächelnd in der Erinnerung an eine Kinderliebe, aber es kam auch nicht zu einem einzigen Tanz. Das war ein furchtbarer Schlag für mich. Ein großer Verlust. Wie würde ich nun je einen finden, der mich so liebte, den ich so lieben konnte?

Jochen Petz war schon im Jahr zuvor umgebracht worden. Meine Mutter trat mir, als ich aus der Schule kam, mit der Mitteilung entgegen, sie habe ihn nun in die Mülltonne getan, ich sei ja groß und das Tier ziemlich widerlich. Ich war entsetzt und konnte es nicht fassen!! Aus diesen Mülltonnen, in denen Asche, Knochen und Vergammeltes sich mischten und die von Ratten mühelos aufgestemmt und besucht wurden, konnte ich ihn nicht wiederholen!

Zurück zum Kindergarten. Einmal stand ich plötzlich in einer Pfütze unter mir, von der ich nicht wusste, wie sie dorthin kommen konnte … Alle lachten mich aus, ich stand wie gelähmt vor Schreck und Scham, denn es war wohl Pipi! Dabei war ich doch schon so lange „trocken“, wie Mama immer wieder stolz erzählte. Ein so liebes, verständiges, trockenes Mädchen. Ich erinnere mich, dass es mir peinlich war, zu sagen ich müsse aufs Klo. Es war zu intim. Die Klos waren furchtbar, halb offen. Ich hatte Angst, dass irgendjemand hereinkommt und mich sieht! Sie waren mir unheimlich.

Jeden Tag gab es Kakao, dazu das Brot aus meinem Kindergartentäschchen, das so wunderbar nach Leder roch, und eine „Kalktablette“ mit Schokogeschmack. Auf dem Kakao schwamm widerlicher Schmand, mir drehte sich der Magen um! Außerdem hatte ich doch zu Hause die Milchallergie …! Meistens trank ich den Kakao nicht. Manchmal würgte ich einige Schlückchen herunter, nachdem der widerliche Schmand mit dem Finger abgefischt und auf dem Unterteller verstaut war. Igitt!!

Tante Toni war lieb! Ich liebte sie. Sie war weich und so freundlich und sanft wie ein Engel. Nie hörte ich ein ungeduldiges Wort, ein Schimpfen. Leider fand das noch jemand und plötzlich hieß es Tante Toni heiratet! Da war ich auf der Hochzeit mit allen Kindern aus der Gruppe. Tante Toni trat aus der Kirche im weißen Kleid mit einem langen Schleier, ein Mann war an ihrer Seite, für den ich keine Blicke hatte. Ich durfte, so klein ich war, gerade vier vielleicht, das Gedicht für alle Kinder aufsagen. Dann versank ich im Tüll des weißen Kleides, sie drückte mich in die weiße Wolke hinein und weinte ein bisschen. Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Das Gefühl für dieses wunderbare weiße Kleid blieb in mir. So würde ich auch da stehen und heiraten …

Tante Elsbeth kam, auch sie war lieb, nicht ganz so zart, sondern etwas fröhlicher und lauter mit schelmischen Grübchen und Pickeln im Gesicht. Sie hatte schöne blaue Augen und schimpfte zum Glück auch nicht.

Schlimm war es nur, wenn Tante Ute aus der anderen Gruppe zur Vertretung da war! Vor ihr hatte ich eine Heidenangst! Warum? War sie böse? Sie hat mir nie etwas getan, aber sie hatte schwarze Haare und Augen und eine gelbliche Haut …Ich traute ihr nicht zu, zu erkennen, wann es Zeit war, uns rauszulassen. „Ich hab Angst vor Tante Ute“, weinte ich zu Hause. „Warum denn?“ „Sie hat so raaze Augen …!“

Tante Lore war klein und dick mit dunklen Haaren und dicken roten Wangen. Sie war die Leiterin und eines Tages war sie krank und kam nie mehr wieder! Sie war an Leukämie gestorben! An dieses Wort erinnere ich mich auch im Zusammenhang mit einem kleinen Mädchen aus dem Kindergarten … auch sie kam nicht zurück.

Statt Tante Lore kam nun eine sehr zarte, grauhaarige Dame mit weichen kurzen Locken und großen blauen Augen im schmalen Gesicht. Sie hieß Fräulein Mohr und ich liebte sie! Ich erinnere mich daran, allein in ihrem Büro zu sitzen und mit ihr zu sprechen. Sie wollte mich kennenlernen und stellte dabei unter anderem fest, dass ich sehr musikalisch sei. Sie machte mir auch Mut, wenn ich Angst hatte und ich sah an ihrem Blick, dass sie alles verstand, was mit mir los war. Ich war nun wirklich im Blick, fühlte mich angeschaut und getröstet von ihr, wenn sie auch nicht immer sichtbar war.

Soweit ich das jetzt sehen kann, gab es in unserem Kindergarten keine schwarze Erziehung mehr!

Ich erinnere mich an Kreisspiele im Raum, an Basteln, sei es Laternen oder einmal eine Zwergenmütze mit Umhang. Da war ich ein Zwerg.

Gerne spielte ich für mich mit bunten Holz Steckerchen. Immer neue Farben und Muster auf das Brettchen stecken. Es gab Zeiten von freiem Spiel und wunderbares Spiel- und Malmaterial, das wir selbst auswählen durften. Die farbige Knete, schon bald nur noch grau, zerdrückte ich mit Vorliebe in meinem Händen, formte und rollte und ribbelte die ganz besonders „duftende“ Masse ausführlich immer wieder von den Fingern. Wir haben gesungen, das tat ich sehr gerne und laut. Draußen gab es hinterm Haus einen breiten Plattenweg, auf dem täglich für die Hortkinder ein dickes Tau zum Springen unermüdlich geschwungen wurde. Hier schaute ich zunächst sehnsuchtsvoll zu und lernte so die „Großen“ kennen. Besonders erinnere ich mich nur an große Jungen, die es mir sehr angetan hatten. Auf diesen Platten spielten wir auch Hopse und ich durfte einige Male meine Rollschuhe mitbringen, bis sie mir einmal von dort, wo ich sie am Nachmittag vergessen hatte, geklaut wurden … Die Trauer war groß! Oberhalb des Plattenweges befand sich ein großer Platz mit rötlichem, festgetretenen Kies, rosenumsäumt. Hinten rechts war unser Kleinkindersandkasten, in der Sonne gelegen mit weißem Zuckersand. Hier buk ich viele Kuchen und Brötchen und siebte dazu unermüdlich große Mengen Mehl in ein Eimerchen. Ich fühle diese schönen, vertieften Spiele und das wahrhaftige Kochen und Backen, dass ich mit Begeisterung betrieb. Nur einen Nachteil hatten wir hier: Es gab kaum nassen Sand, sodass die Kuchen allzu schnell zerrannen! Schräg gegenüber aber, am linken Rand des Platzes, lag unter schattigen hohen Bäumen der ovale Sandkasten, für die großen Jungen. Hier gab es immer nassen Sand in Fülle, und so entstanden hier auch nicht nur Kuchen, sondern kunstvolle Gebäude, Burgen, Höhlen … Mit großen Schaufeln wurde gearbeitet und oft schaute ich ehrfurchtsvoll und etwas neidisch dabei zu, wobei wiederum die großen Jungen die Hauptsache waren, die ich anstaunte, aber die mir unerreichbar erschienen und mich auch nie eines Blickes oder Wortes würdigten, wie es mir vorkam. Hinter diesem Sandkasten befand sich eine hohe, alte rote Backsteinmauer mit Stacheldraht obendrauf, die den Platz nach außen abgrenzte. Diese Mauer war mir im höchsten Grade unheimlich, eben weil sie so alt war, das Gebäude aber noch so neu, und weil ich mich schauerlich eingesperrt fühlte hinter diesem Stacheldraht. Ich hatte Angst. Man machte mir klar, dass die Mauer uns nicht einsperrte, sondern uns davor beschützen sollte, dass von außen jemand hereinkam, der nicht hineindurfte. Hinter der Mauer lagen dunkle Hinterhöfe. Dahinter dunkle Häuser.

Heute fragte ich mich, was die Mauer umschloss, bevor hier der Kindergarten gebaut worden war? Mitten in diesem Judenviertel? Und wozu der Platz gedient hatte? Ich träumte letzte Nacht von diesem Jungensandkasten. Er war mit schwarzem Wasser gefüllt, das sehr tief erschien. Endlich war ich hier allein, und nun gab es keinen Sand! Ich hatte einen kleinen, weißen Kiesel, den ich in das dunkle Wasser warf, um die Tiefe auszuloten. Ich war noch sehr klein, vielleicht vier Jahre alt und gleichzeitig auch erwachsen. Der Kiesel fiel und versank. Stattdessen kam etwas großes, schleimiges Weißes nah unter die Oberfläche, wie ein altes weißes Kleid oder aufgelöstes weißes Papier. Ich dachte an eine Leiche oder viele Leichen. Ich war ins Wasser geraten und konnte mich mit Mühe wieder herausziehen. Hinten an meiner Hose aber hing ein großer weißer Fetzen von diesem Zeug. Ich schrie und weinte und wollte zu Mama! Man führte mich an den Rand des Platzes. Unten auf den Platten standen viele Leute und wollten helfen, Gemeindeleute. Ich aber wollte einzig und allein meine Mama und war untröstlich und zu Tode beängstigt. Mama war nicht da!! „Bitte zeig auf jemanden, der kommen und Dir helfen soll!“  Ich zeigte in der Not auf Maya, das war am nächsten dran an Mama. Sie kam hoch zu mir, führte mich zum trockenen Sand und nahm das Ding von meiner Hose hinten. Es war wohl eine alte, schleimige Milchverpackung.

Mittlerweile ist mir klar, dass das Gelände auch in unmittelbarer Zechennähe lag und im Krieg viele Zwangsarbeiter verschiedener Herkunft dort gearbeitet haben und ja auch irgendwo gewohnt haben müssen… Es war das Zechengelände der Zeche  „Graf Beust“. In der Nähe befand sich auch das „Kriegerdenkmal“, zu dem wir manchmal spazierten, weil es einer der wenigen Wege mit etwas Grünem war. Der Weg war ehemals ein Stollen, in den sich 1944 bei einem Bombenangriff 99 russische Kriegsgefangene geflüchtet hatten, weil sie den nah dabei liegenden Bunker nicht aufsuchen durften. Der Stollen wurde getroffen und zugeschüttet und alle 99 Gefangenen Zwangsarbeiter kamen ums Leben.

https://media.essen.de/media/wwwessende/aemter/61/dokumente_7/denkmalschutz/inventarisationbeispiele/Gerlingstr_-_Kriegsgraeberstaette_d_Zeche_Graf_Beust__Inventarisation_www__UDB2B_100613_143000.pdf

 

Ansonsten spielten wir hier viel Fangen. Besonders lustig war das, wenn der Fänger einen dicken Rosendorn mit Spucke auf die Nase geklebt hatte und so ein „Nashorn“ war. Hier standen wir mit unseren Karnevalskostümen und wurden fotografiert.

In der Garderobe oder draußen in der Halle gab es einen Schlusskreis von allen Kindergartenkindern. Unter anderem beteten wir das „Gegrüßet seist Du Maria“. Von diesem Gebet her hatte ich großen Respekt vor einem Jungen Namens Horsti Zündorf, der mit blondem Bürstenschnitt und unschuldigen Augen da stand, denn er kam in dem Gebet vor! „Und bitte für uns Zündorf“ … („Und bitte für uns Sünder“)

Wenn die Zeit nahte oder oft auch schon lange vorher wurde ich unruhig und wieder an zu Hause erinnert: Vergessen sie mich nicht? Ist nichts Schlimmes passiert? Sind sie vielleicht gar nicht mehr da, weggegangen? Werden wir rechtzeitig oder überhaupt hier rausgelassen?

Der Nikolaus kam. Ich erzählte zu Hause, der Nikolausvertreter sei da gewesen. „Wie bitte, was für ein Vertreter?“, fragte Mama. Na, der Nikolausvertreter, der den Alten, der schon im Himmel ist, hier bei uns vertritt!“

Sankt Martin zogen wir durch die Straßen, mit Blasmusik und Martin hoch zu Ross und sangen uns die Kehle wund. Zum guten Schluss ging der Zug für uns Kindergartenkinder mitten durch den Kindergarten hindurch, wo uns ein „Stutenkerl“ überreicht wurde. Ich war stolz, dazuzugehören und mochte den weichen süßen Kerl unwahrscheinlich gerne. „Das sind die besten Männer“, sagte unsre Nachbarin Frau Eimann. „Wenn sie dir blöd kommen, kannst Du sie einfach aufessen!“ Was sollte ich davon halten?

Ich ging gerne zum Kindergarten, aber ich war auch sehr verletzlich und ängstlich, eine „Mimose“. Jede Bemerkung, Verletzung, Beschämung wog schwer und stürzte mich in Abgründe von Angst und Verzweiflung. Ich weinte viel.

Es gab eine gewisse Harmlosigkeit beim Malen und Spielen, die so ganz anders war als die Gefühle zu Hause, denen ich aber doch immer wieder als dem Eigentlichen entgegenfieberte.

Ich war aber auch ein „besonderes“ Kind, das bekam ich wohl mit …, das niedlich war, lieb, gut Gedichte aufsagen und singen konnte, andere Kinder einbezog und plötzlich mit fünf Jahren las. Das hatte ich zu Hause ganz allein an den Überschriften in meinem Grimms Märchenbuch gelernt, die neben wunderschönen Bildern zu dem jeweiligen Märchen standen. Es war das einzige Buch, aus dem mir je vorgelesen wurde und das ich zu Hause besaß, bevor ich zur Schule kam.

Danach hatte ich mit Mama in der Straßenbahn an Reklameschriften geübt, wenn ich in den Ferien mit ihr zusammen zur Arbeit fahren durfte.

Ein anderer Junge roch so lecker nach Wurst. Ich erfuhr, dass seine Eltern eine Fleischerei hatten, an der wir oft vorbeikamen. Manchmal stand dort in Sütterlinschrift: „Heute frisches Kinderfleisch …“ Ich rannte vorbei, so schnell ich konnte.

Später wurde ich ein Hortkind. Ich war es gerne. Besonders die Bücherei zog mich magisch an! Die war wunderbar! Auch durften wir nun endlich mit den empfindlichen „Schmierstiften“ malen. Die Puppenecke war größer, die Kreisspiele interessanter. Trotzdem hatte ich eine panische Abneigung gegen Spiele mit Verlierern. Ich hatte Angst, zu verlieren oder andere verlieren zu sehen. Ich wollte lieber malen, lesen, fangen und vor allem Rollenspielen mit Veronika. Das ging nur draußen, unterhalb des Platzes, ein Treppchen runter zum Keller. Hier vertieften wir uns und waren nicht wir. Veronika mit veilchenblauen Augen und Pferdeschwanz.

Anfangs hatte ich im Hort große Ängste auszustehen, ob sie uns um fünf entlassen … Alle paar Minuten fragte ich nach der Uhrzeit und nervte sehr. Ich erinnere mich nicht mehr an die Bezugsperson, ich befürchte es war Tante Ute. Kaplan Bitger war da und er stellte mich mehrmals bloß. Ich sagte einmal „Muhkuh“. Und er fragte mich, ob ich schon mal eine Wauwaukuh gesehen habe…? Ich war so schrecklich beschämt und erschrocken. Ich fürchtete mich vor Gewittern halb zu Tode und er lachte mich aus, als ich nicht mit dem Rücken zum Fenster stehen wollte. Sonst war er nett. Er konnte Gitarre spielen und interessierte sich mehr für die großen Jungen. Die fünf Uhr Angst war nicht vorhanden, wenn wir draußen spielten, da verging die Zeit wie im Fluge. Nun durfte ich ja endlich auch mit dem großen Seil hüpfen. Die Uhr schlägt eins – reinlaufen und rauslaufen. Die Uhr schlägt zwei – reinlaufen, zweimal hüpfen, rauslaufen … Ich fuhr einmal zur Stadt, da kauft ich mir ne Katz, die Katz, die hat vier Beine und einen langen Schwanz… Hilfe, Hilfe, ich ertrinke, liebe Veronika rette mich …

Von den großen Jungen erinnere ich mich an Klaus-Jürgen und auch an seine kleine Schwester Gitti, die immer so verheult und bedrückt aussah. Klaus-Jürgen war wild und hatte dicke Lippen. Und an Michael, den ich ganz nett fand, irgendwie sanft, fast etwas schläfrig. An ihn dachte ich öfters etwas schwärmerisch.

Ich durfte mit der Kindergartentasche um den Hals sehr bald morgens allein zum Kindergarten gehen, musste dabei auch nur zwei Nebenstraßen überqueren, was mir zugemutet wurde und worauf ich auch stolz war. Dann, schon als ich Hortkind war, wurde plötzlich bekannt, dass ein Mädchen namens Regine aus der Nachbarschaft tot sei, und zwar ermordet. Sie war von einem Einwohner des Männerwohnheims („Bullenkloster“) neben dem Kindergarten vom Fenster aus gerufen worden, ob sie bitte eben Zigaretten holen könne am Büdchen. Das Geld, in Papier gewickelt, wurde aus dem Fenster geworfen. „Kannst Du sie mir hochbringen? Kriegst auch ´nen Groschen!“

Regine wurde reingezogen, vergewaltigt und ermordet. Dann lag sie drei Tage tot im Bett des Mannes, der es irgendwann, selbst halb wahnsinnig, nicht mehr verbergen konnte.

Das wurde mir erzählt und ich wurde gewarnt: „Höre nie auf einen Mann, wenn Du angesprochen wirst! Geh nie mit jemandem mit und befolge nichts!

Auch: „Geh schön an der Wand entlang, damit dich keiner ins Auto ziehen kann. Geh weiter, wenn jemand anhält, lass dich nicht ansprechen, nimm nichts an!“

Sind die Menschen wirklich so schlecht? Ich kann es kaum glauben, aber ich bin folgsam mit Angst im Herzen.

Natürlich ging ich auf meinem Weg in die Welt auch zum Milchmann, der die lose Milch, den losen Quark, der in Fettpapier eingeschlagen wurde, verkaufte, stolz ein Fünfmarkstück in der kleinen Hand pressend. Einmal war es verschwunden, was mir lange ein merkwürdig unheimliches Gefühl zu dieser rechten Hand hin gab. Ich war sicher, dass es nur in die Hand hinein verschwunden sein konnte und ich hatte kein Schuldgefühl, als ich zu Hause ohne Geld ankam. Vollkommen lauter und erstaunt über dieses Wunder erzählte ich es meiner Mutter, die zwar etwas merkwürdig „So, so!“ sagte und mich vielsagend ansah, aber nicht weiter schimpfte. Trotzdem war ich gekränkt und fühlte mich nicht erkannt.

Selbstverständlich ging ich allein zur Schule, obwohl ich eine große Hauptstraße überqueren musste. Es gab mehrere Möglichkeiten das zu tun, mehr- und weniger gefährlich, und ein weiterer bleibender Traum ist der, an dieser Straße zu stehen und lange nicht rüberzukommen, nach Hause.

Nach Hause hieß: Den Schlüssel vom Halsband nehmen und mir selbst aufschließen. Erschöpft in den Korbsessel fallen und Alleinsein, abtauchen und tagträumen auch um Einsamkeit und Angst zu vertreiben.

Dann Essen wärmen und in den Hort gehen. Manchmal kam Mutti ebenso erschöpft noch vorher von der Putzstelle zu Hause an und trank „eine Tasse Kaffee“ mit mir, bevor ich ging.

Letztens haben wir unsere zehnjährige Nichte mit ihrem Vater zusammen von der Schule abgeholt, die fünf Minuten entfernt um die Ecke liegt. Sie wird täglich gebracht und abgeholt und darf noch nirgendwo alleine hin, auch nicht „draußen“ spielen. Die Eltern halten es für unverantwortlich. Meine Eltern hatten ein anderes Lebensgefühl. Was hatten sie denn erlebt? Sollte ich jetzt verweichlichen?

Die Notwendigkeit von so ausgeprägtem Schutz wurde nicht gesehen. Vor allem sollte ich so selbstständig wie möglich sein.

Auf dem Weg zum Spielplatz sah ich immer wieder einen „Penner“ auf der Bank liegen, der sich entblößte und mit steifem Glied dort rekelte und stöhnte, wenn ich vorbeilief. Das war so ekelhaft und Angst einflößend!

Der „Gelbe“, ein Mann mit fettigen langen blonden Strähnen und gelbem Pullover, stand morgens auf dem Schulweg ins Gymnasium oft an der Ecke vor der Ruhr-Schnellwegbrücke und exhibitionierte und geiferte mich an. Ich sah ihn auch wieder und wieder in den Straßen ziellos herumgehen und fürchtete ihn panisch.

Vom Arztweg zurück aus Altenessen, den ich natürlich zu Fuß ging, wurde ich einmal regelrecht verfolgt, nachdem ich angesprochen worden und dann losgerannt war. Ich war dreizehn Jahre alt und schon ganz nett entwickelt. Wegen fortwährender Herzrhythmusstörungen hatte ich allein diesen Arztbesuch gemacht.

Auch schon als Kind mit ausfallenden Milchzähnen ging ich ganz allein nach Frillendorf zum Zahnarzt Dr. Ullmann. Dabei musste ich nicht viele Seitenstraßen überqueren, aber es war ein langer Weg an der Hauptstraße entlang. Meine Mutter erinnerte sich gar nicht mehr, kein Wunder, denn sie war meist nicht dabei. Er verschenkte kleine Gummitierchen, die wirklich eine Entschädigung für diesen strengen Geruch, den Lampenkopf und die Geräte waren, die mir in den Mund fuhren und die kleinen Milchzähne vom letzten Fleischfetzchen loslösten. Das Bohren ertrug ich stets mit Stolz ohne Betäubung.

In die selbe Richtung ging ich auch zum „Sonderturnen“, nur noch ein Stückchen weiter, denn unsere Schule hatte keine Turnhalle.

 8.2.2014

Beim Nachlesen bemerke ich eine Atemlosigkeit im Schreiben, die eine Wut darüber zum Ausdruck bringt, dass ich so wenig geschützt wurde.

Gerade habe ich „Germinal“ von Zola ausgelesen und bin so erschüttert! Das sind meine Wurzeln. Diese Bergarbeitergeschichte, in der Kinder wie Sklaven für nicht einmal ausreichendes Brot unter Tage schuften mussten und nur unnütze Fresser waren, solange sie das noch nicht konnten, verloren, wenn sie dann das Haus verließen und selber Familie gründeten.

Gemessen an denen: Wie hatte ich es gut! Wieder mal der Satz. Und doch, es waren dieselben Mechanismen und Ängste, dasselbe unnütze, überfordernde Dasein, wenn ich nicht irgendetwas „bringen“ würde. „Ich kann mit ihr nichts anfangen“, sagte mein Vater als ich klein war. Erst als ich reif genug war, um zuzuhören und zu verstehen, um zu trösten und mit ihm zu philosophieren, Schach zu spielen, auch um ihm zu helfen, ihn zu erfüllen, war sein Interesse geweckt, und dann auch so sehr, dass er mich für immer zu brauchen meinte.

Ich war also schon ein Kindergruppenkind, als ich vor der ersten Kur auf dem Lande stand, mit knapp sieben Jahren.

Meine Mutter war selber „Kinderlandverschickt“ gewesen und nach drei Jahren mit ihrer älteren Schwester, die gekommen war, um sie abzuholen, durch das zerstörte Deutschland nach Hause „gefahren“. Sie hatte unter furchtbarer Verlassenheit gelitten. Nun gab es wieder diese „Kinderlandverschickungen“ zur „Stärkung“ der Stadtkinder.

Ich bekomme ein Namensschild um den Hals, wie meine Mutter damals, und stehe an ihrer Hand inmitten von ungefähr tausend Kindern auf dem Bahnhof. Der Sonderzug steht schon bereit. Mama weint und ich habe Angst. Ich will nicht weg! Ich gehöre zu einer Zahl, die irgendwo hochgehalten wird und wir dringen dahin durch. Dort steht ein großes Mädchen und sagt: „Hier kannst du stehen bleiben, wir fahren zusammen.“ „Wie heißt du denn?“, fragt Mama. „Elisabeth“. „Elisabeth ist doch nett, Lenilein, willst du bei ihr bleiben?“ Ich schüttele den Kopf, weine, flüstere meiner Mutter ins Ohr: „Sie ist eine blöde Halskuh …“ Denn sie hat einen langen Hals und sieht so anders aus als Mama, ich will ihre Hand nicht nehmen!.

Aber die Zeit zum Einsteigen kommt und Elisabeth legt ihren Arm um meine Schultern, ich muss mich losreißen und einsteigen. Auf dem Bahnsteig steht meine schluchzende Mutter, ich weine auch und fühle mich so unendlich verlassen. Werde ich sie je wiedersehen?

Beim Aufwachen heute Morgen, nach dem Schreiben gestern Abend, ist mir klar: Auch bei mir zu Hause war Krieg! Ich musste auch deshalb verschickt werden, um eine Zeit lang in einem Schutzraum zu sein. Ich weiß, dass die Bedrohung für mich zu Hause groß war, durch meine vielfach traumatisierten Eltern und wahrscheinlich ebenfalls vielfach traumatisierte Oma, durch das verrückte „Haus“, durch die trostlose, fast asoziale, jedenfalls noch sehr vom Krieg geprägte und arme Arbeiterumgebung. Waren viele Stadtkinder genauso oder ähnlich betroffen? Sind wir eigentlich auch noch Kriegskinder, die aber nichts mehr zu klagen hatten?

Der Sonderzug fährt ab und ich weiß nur noch, dass Elisabeth mein wahrer Engel wurde. Sie blieb an meiner Seite und tröstete mich, umarmte mich, nahm mich auf ihren Schoß. Kein Wort des Spottes über meine vielen Tränen kam über ihre Lippen. Ich weinte viel mehr als andere Kinder. Sie war vielleicht dreizehn Jahre alt, eine der Großen.

Die Reise ging nach St. Blasien im Hochschwarzwald. Ich weiß noch, es war Winter, mit viel Schnee und der Eingang war im Keller, wo man die Schuhe abstellen und dann nach oben ins Haus gehen konnte. Ich fühle noch die liebevolle Atmosphäre im Haus, es gab schöne Ess – und Spielräume, nette Schlafräume, wo je vier Kinder schliefen, große Waschräume. Ein süßes „Betthupferl“ vor dem Schlafengehen, sogar nach dem Zähneputzen, fand ich besonders lieb und unstreng. Ich erinnere mich an ein Fest, ein Märchenstück spielten wir, bei dem ich ein Zwerg war, in selbst gebasteltem Kostüm.

Das Essen war lecker. Wir fuhren viel Schlitten, das weiß ich nur, weil es ein Foto mit vielen Schlitten gibt, mit vielen Kindern und mir auf Elisabeths Schoß.

Ich erinnere den heimeligen Duft im Haus, nach Früchtetee und Brot. Und natürlich erinnere ich mich an Elisabeth. Schlimm für mich war es, wenn sie tagsüber mit den Großen andere Unternehmungen machte und ich von ihr getrennt wurde.

Trotzdem hatte ich ganz schreckliches Heimweh und habe Ströme von Tränen geweint in dem hilflosen Gefühl: „Nun sind sie weg und ich werde sie nie wieder sehen!“ Selbst sechs Wochen sind für eine sechsjährige eine unüberschaubare Zeit. Trotzdem wurden irgendwo Kerben gemacht. Trotzdem gab es ein Schneewittchen, das wunderschön war und einen Zwerg, der Cornelia hieß und noch einen Zwerg, der Soraya hieß und die sehr nett waren.

Einmal gingen wir angestrengt auf einen hohen Berg, von dem man weite Aussicht hatte und die Schweizer Grenze sehen sollte. Ich konnte sie nicht entdecken und war sehr enttäuscht über den Ausflug. Aber der erste Überblick von hoch oben über weites Land und auf die Berge, ist die einzige Erinnerung an eine Unternehmung dort und war wunderbar befreiend.

Und dann war ich tatsächlich wieder zu Hause gelandet! Mama stand auf dem Bahnsteig und schloss mich weinend, wie sie mich verabschiedet hatte, in die Arme. Was hatten sie zu Hause nur ohne mich gemacht? Papa war immer noch so oft gereizt, krank und wütend oder traurig wie vorher. Mama versuchte zu trösten, konnte Papa aber nicht verstehen und Oma brachte immer noch alle durcheinander und zankte herum.

Nun spürte ich zum ersten Mal das Phänomen des Fernwehs. Ich saß auf der Fensterbank und blickte in die düstere Straße, durch die damals noch die Straßenbahn fuhr, und vermisste die Kinder! Ein Einsamkeitsgefühl, ganz ähnlich wie das Heimweh machte mir eine Zeit lang zu schaffen.

Zwei Jahre später war es wieder soweit: Ich wurde als überaus kurbedürftig eingestuft, atemwegs- und hautmäßig. Auch war ich „zu zart“. Ich hatte noch immer massive Neurodermitis Geschwüre, bekam ein „Tuberkulosepflaster“ auf die Brust und hoffte auf keine Bläschen darunter, damit ich fahren durfte. Neben der Hoffnung gab es auch eine Riesenangst und Verlassenheitsgefühle im Voraus. Die widersprüchlichen Gefühle schienen mich mitten durchzutrennen.

Ich durfte fahren! Eine sechswöchige Fahrt auf die Nordseeinsel Borkum, veranstaltet und unterstützt von der Stadt Essen.

An dieser Stelle hätte ich gerne ein Gedicht eingefügt, dass ich in der alten Synagoge in Essen im Schaukasten fand. Ein jüdischer Flüchtling beschrieb diese Insel als ausgesprochen faschistisch besetzt und schilderte seine Leiden. Ich bat per Mail um dieses Gedicht, aber bekam nur eine zufällige Antwort. Einige Sätze, mit denen jemand meine Anfrage intern weiterleiten wollte und die dann aus Versehen bei mir gelandet waren. Ängstlichkeit sprach daraus, vier Fragezeichen, und ich verzichtete darauf. Vielleicht komme ich ja noch mal nach Essen.

Wieder gab es den Bahnhofsabschied in Essen West. Wieder Gruppen, eine weinende Mama und diesmal keine Elisabeth, keinen Schutzengel. Nur lauter kleine, schutzbedürftige Kinder wie ich. Auch größere Kinder waren da, aber in separaten Gruppen, weiter weg.

Wieder gab es den Schmerz des Losreißens, diese Todesqual, die Ungewissheit, Verzweiflung.

Von dieser Reise erinnere ich mich sehr schwach an die Überfahrt auf dem grauen Meer, das mir eintönig und bedrohlich erschien.

Es folgte eine grauenhafte Zeit in einem großen, weißen Haus am Strand, „Haus Ruhreck“. In einem riesigen Speisesaal mit langen Tischen in Reih und Glied saßen viele Kinder, Jungen und Mädchen getrennt. Ich hatte meinen festen Platz unter ihnen am rechten äußeren Tisch mit dem Rücken zum Fenster. Vorne, quer vor allen Tischen, standen Ausgabetische mit großen Töpfen, dahinter „Tanten“ mit weißen Schürzen, großen Kellen und scharfen Blicken, kalten Gesichtern.

In langen Reihen hieß es antreten, den Teller vorstrecken und sich eine Portion Essen aufklatschen lassen. Dann damit vorsichtig zum Platz zurück balancieren, sich still hinsetzen und sittsam aufessen. Sittsam hieß: Ohne Ellbogen auf dem Tisch, ohne nach rechts oder links zu schauen, ohne zu sprechen oder gar zu mäkeln zügig, ohne zu zögern aufessen.

Dabei waren wir der schärfsten Beobachtung ausgesetzt und bekamen Strafen, wenn etwas danebenging. Dann hieß es hinter dem Stuhl stehen und später alleine aufessen, den Nachmittag über alleine im Bett bleiben und ähnliche Schikanen.

Es konnte nicht sein, dass eine Portion zu groß war, oder gar nicht schmeckte! Aufessen!

Ich hatte bekannterweise eigentlich, denn deshalb war ich hauptsächlich hier, eine Kuhmilchallergie und auch schreckliche Abneigung gegen Milchiges. Milchsuppe gab es jeden Abend als Vorspeise. Da ich sie nicht hinunterkriegen konnte, kam der zweite Schlag Essen, etwa Bratkartoffeln, in die Milchsuppe hinein und darauf noch meine salzigen Tränen, weil ich so lange sitzen musste, bis alles aufgegessen war. Einmal musste ich würgen und das Heruntergeschluckte wieder in den Teller erbrechen. Ich wurde gezwungen, es aufzuessen. So erging es nicht nur mir. Die Demütigung, stets vor allen anderen war vollkommen. Ich hatte tatsächlich kurz den Ellbogen aufgestützt und musste dafür eben den ganzen Nachmittag allein im Bett bleiben.

Ob ich wohl Heimweh hatte?

Meine Tränen hörten fast nicht auf, ein riesiges Verlassenheitsgefühl war nicht nur abends, sonder immerzu schmerzend in mir.

Es gab zwar einen schönen Puppenraum, da spielte aber fast nie jemand. Ein gelöstes Spiel konnte nicht aufkommen, wir waren auch ständig kontrolliert!

Ich schrieb nach Hause, wie es mir ging, und bat verzweifelt um Abholung.

Diese Verbindung zu Mama war ein Trost! Doch nur kurz. Die Tante, ich habe keine Namen behalten, kam mit dem offenen Brief ins Puppenzimmer und schlug ihn mir um die Ohren. „Deine Mama soll dich abholen? Was denkst du denn?  Willst du ihr solche Sorgen machen? Das geht nicht!“

Und sie diktierte mir den Text für eine Ansichtskarte: „Liebe Mama, lieber Papa! Mir geht es gut, wie geht es euch? Das Wetter ist schön. Wir spielen viel und gehen spazieren. Eure liebe Petra.“ Und unser verabredetes Geheimzeichen, von dem wirklich keiner etwas wusste: ein unausgemaltes Herz mit Punkt in der Mitte.

Außer einer Karte dieser Art jede Woche wurde keine Post gestattet. Mamas Briefe an mich waren geöffnet und manchmal bekam ich lange keinen …

Abends, in den Vier- oder Sechsbettzimmern, mussten wir mit dem Gesicht zur Wand und den Händen über der Bettdecke einschlafen, auch wenn der Mond noch so schön zum Fenster hereinschien, durften wir nicht hinsehen. Wir durften uns nicht unterhalten, was wir flüsternd trotzdem versuchten. Eine Tante kam zur Kontrolle und wies uns streng zur Wand. Die Augen mussten geschlossen sein. Einmal wollten wir aus dem Fenster des Nebenzimmers so gern den Leuchtturm leuchten sehen, der nah beistand, und schlichen auf Zehenspitzen hinüber, sogar ich hatte mich getraut, und wir wurden erwischt! Dieser tiefe Schreck! Wie ein ertappter Verbrecher, nun sicher dem Tod ausgeliefert, fühlte ich mich. Ich wurde gepackt und ins Badezimmer gebracht, wo ich die ganze Nacht stehen musste. Ich war so sterbensmüde, dass es schmerzte! Wenn die Kontrolle weg war, setzte ich mich manchmal ein bisschen auf eine hölzerne Badebank. So verging die Nacht ohne Schlaf. Einmal wurde ich auch kürzer in die dunkle Besenkammer gesteckt. Ich gehörte zu den „lieben“ Kindern. Andere erlebten diese Folterqualen öfter als ich. Jedoch ich kam so angstbelastet hier an, dass jedes dieser Erlebnisse sehr schwer wog.

Im Saal saßen wir täglich lange Zeiten auf unseren Plätzen und lernten deutsche Volkslieder auswendig. Der Text wurde uns vorgesprochen, dann sangen wir mehrmals das Lied. So eigenartig und zwanghaft das war, habe ich das Singen doch genossen, wie immer half es mir, zu überleben, und so konnte ich mein Liedgut erweitern.

Täglich rannten wir in kleinen „Haufen“ im Badeanzug zum Strand und wurden in die Wellen gescheucht, nur kurz! Dann knapp zurückbefohlen. Schnell sollten wir im nassen Badeanzug über den Strand ins Haus laufen und uns wieder anziehen. Ebenso regelmäßig lief ich auf diesem Rückweg gegen eine Fahnenstange, oft mit dem Kopf, wo ich also sechs Wochen lang ein blühendes

„Hörnchen“ auf der Stirn hatte. Ich kann mich nicht daran erinnern, auch nur einmal am Strand im Sand gespielt zu haben. Ich erinnere mich an einen Spaziergang im Sturm, bei dem ich mein ganzes Gewicht auf den Wind legen konnte. Das war Windstärke zehn!

Ich gehörte zu den Kindern, die nachmittags Liegekur machen mussten in einer halb offenen Liegehalle um den Innenhof herum, in dem die anderen auf einem würfeligen Klettergerüst spielen durften. Das war eine schrecklich heimwehträchtige Zeit, zumal ja die Mittagsruhe im Zimmer schon vorangegangen war. Zu viel leere Zeit, in der Angst und Verlassenheit Oberhand gewinnen konnten. Ich erinnere mich an kein Kind namentlich, hatte keine Freundin. Gab es dort keine Beziehungen? Ich konnte kaum noch glauben, jemals wieder nach Hause gelassen zu werden! Die Verzweiflung war sehr groß, das Band zu meiner Mutter zertrennt.

Dann ging es doch nach Hause!

„Du bist ja gar nicht braun geworden!“ war der erste Satz auf dem Bahnhof, als wir uns weinend in den Armen lagen.

Als ob das wichtig wäre!

„Ich hab immer noch ganz dicke Ekzeme! Und ich fahre nie mehr nach Borkum!“

Meine Mutter glaubte nicht, was ich ihr erzählte! Mein Vater? Es erscheint nichts in mir, wenn ich mir versuche vorzustellen, ob er irgendeine Meinung dazu hatte … Das waren ja für ihn keine Probleme … Er war voll mit sich.

Nach Jahren flogen mehrere solcher Heime auf, auch dieses, und meine Mutter bereute bitter, mir nicht geglaubt zu haben.

Alte Naziheime mit schwarzen Erziehungsmethoden, kinderquälenden Nazipädagogen.

https://www.op-marburg.de/Marburg/Das-stille-Leid-der-Verschickungskinder

Dem war auch ich zum Opfer gefallen. Niemals hatte ich Fernweh nach Borkum oder dem Meer! Nie ging ein Gedanke nach Norden oder ans Wasser, wohin andere oft in die Ferien fuhren. Ich beneidete sie nicht.

Und jetzt lebe ich an der Ostsee, sitze wieder im Saal an langen Tischen!

Immer noch quält es mich, am „Buffet“ Schlange zu stehen, besonders, wenn das Essen „ausgeteilt“ wird! Ich mag nicht im Kinderheim sein! Ich will nach Hause! Ich mag auch keine Kontrolle  mehr!

Ja, Borkum ist wohl ein besonderes Nazinest gewesen und auch 1966 war es wohl noch nicht „entnazifiziert“.

20.08.2020: Trauma durch »Erholung« (Tageszeitung junge Welt)

Aber ich hatte auch mein grünes Tal, das mir kostbar wurde und mich getröstet und aufgefangen hat.

Nach der Erfahrung auf Borkum wollte meine Mutter mich nicht mehr mit einer unchristlichen Organisation wie der Stadt Essen wegschicken. Unser Pastor Korinthenberg schlug vor, mich mit der Caritas zu verschicken. Das sei viel besser, wenn auch nur für vier Wochen möglich. Für mich war es furchtbar, überhaupt wieder wegzumüssen, aber es gab keinen Urlaub in den Ferien und ich war so gestresst… Das Familienleben war wohl ein hoher Stressfaktor für mich. Sicher waren es ihre guten Gedanken für mich, die sie dazu veranlassten. Eine Auszeit, andere, fröhliche Kinder sehen und fröhlich spielen sollen, ganz harmlos leben. “Das doppelte Lottchen“ wurde zu meinem Lieblingsbuch.

Ich sehe jetzt, dass meine Eltern diese Auszeit von mir brauchten, nicht etwa, weil ich aufsässig gewesen wäre! Im Gegenteil! Ich war so lieb, dass sie kaum fassen konnten, womit sie das verdient hatten! Aber ich war da! In einer immerwährend unmöglichen Lebenslage meiner Eltern. Meine Mutter hatte in Papa ein Riesenbaby und dazu seine verrückte und bösartige Mutter in Schach zu halten. Sie ging selbst arbeiten, hatte mehrere Putzstellen, und war überaus sozial tätig in der Nachbarschaft. Sie hatte ihre eigene Mutter und ihre jüngeren Geschwister, die ins Asoziale abgeglitten waren, immer wieder zu besuchen und ihnen zu helfen. Ich wurde zwar überall hin mitgeschleppt, wenn keine andere Unterbringung möglich war, und außerhalb der Ferien war ich ja auch „versorgt“ in Kindergarten, Hort und Schule.

Es ging nicht, dass ich den ganzen Tag über einfach nur da war! Sicher war mit dem Verschicken meiner Mutter auch eine große Last abgenommen.

Ich erinnere mich an die Caritas Voruntersuchung und das Vortreffen zur Besprechung. Alles war viel kleiner und persönlicher. Es gab zwar auch ein Tuberkulosepflaster, aber keine Reihenuntersuchung. Ich bangte dem Tag der Pflasterentnahme entgegen, mit zwiespältigen Gefühlen, wie jedes Mal, wenn ich wegfuhr. Ich lag in meinem schlaflosen Bett und tastete die Pflasteroberfläche ab, ob etwa darunter Bläschen zu fühlen waren und malte mir in Angst und Entzücken aus, wie es wäre, wenn ich die ganzen Ferien über hier in der Stadt bleiben würde und wie, wenn ich doch mitführe … Was alles könnte wohl passieren unterwegs, und was hier zu Hause? Es konnte ja sogar ein Krieg ausbrechen! Musste ich darauf nicht achtgeben und lieber hier bleiben?

Diesmal lernten wir schon die Gruppenführerinnen kennen. Das wird keine „Kur“, sondern eine Ferienerholungsfahrt werden, trotzdem habe ich neben der Erwartungsspannung auch massive Ängste. Das Pflaster entschied jeweils mein Sommer Schicksal.

Die Reise geht nach Südtirol, ST. Jakob im Ahrntal. Wieder gibt es den großen Bahnhof bei der Abreise mit tausend Kindern im Sonderzug von Essen-West. Erst im Ahrntal werden wir weiter erfahren, wohin genau wir dort kommen.

Diesmal stehen wir aber schon bei unserer Gruppenführerin Hildegard, eine weiche, etwas rundliche und mütterliche junge Frau.

Wir landeten in Bruneck nach einer anstrengenden Nachtfahrt, wir hatten teilweise in Gepäcknetzen, viele und auch ich unter den Sitzen auf dem Fußboden geschlafen. Das im Schlaf Bedrängtsein, verursachte mir immer fast Schmerzen, ich konnte es nicht ertragen.

In Bruneck erwartete uns der Bus ins Ahrntal. Ich bin bezaubert und überwältigt von der Schönheit der Bergwelt, die sich plötzlich um mich schließt. Der Bus fährt am Fluss entlang, der Ahr, bis nach St. Giacomo: Ja, wirklich, denn ich bin in Italien! Stolz schwellt meine Brust. Ich bin das erst mal im Ausland!

St. Jakob liegt auf einem Bühel, einem Schuttkegel, der durch einen Felssturz im Bärental entstanden ist.

Als der Bus hält und als ich mit den andren aussteige, strömt die würzig duftende Blumenluft leicht und süffig wie Silvestersekt, an dem ich manchmal nippen durfte, in mich ein. Vor mir liegt auf einer Anhöhe ein lang gestrecktes Bauernhaus mit einem kleinen Anbau. Wir tragen unsere Koffer den Schotterweg hoch und es duftet nun noch nach Stall und köstlichem Essen: Kaiserschmarrn. Frau Steger, eine zierliche, schwarzäugige ältere Dame mit Tracht und schwarz-grauem traditionellem Haarkranz steht mit ihrer Helferin, Frau Bacher, die direkt drüben am Bach wohnt und eine größere, rotwangige Frau mit milden blauen Augen und Haarkranz ist und deren Tochter Paula, einem lieblichen, weißblonden, langzöpfigen Mädchen mit strahlend blauen Augen und rosenroten Wangen in meinem Alter, vor der Haustür. Dabei steht Lora, ein großer, lieber Schäferhund, mein Traumhund!

Ich glaube, wir waren die ersten Kinder im Ahrntal. Die sehr arme Gemeinde hatte beschlossen, ihre Bauernhäuser für erholungsbedürftige Kinder zu öffnen. Ansonsten gab es erst sehr wenig Tourismus dort. Hin und wieder ein Haus mit Schild: „Zimmer mit fließend Wasser“.

Hier zu sein war schön für mich, wie nach Hause kommen …

Natürlich hatte ich starkes Heimweh und war überempfindlich. Ich wurde auch krank, hatte eitrige Angina, sodass ein Arzt kommen musste. So verbrachte ich viel Zeit allein im Zimmer.

Stegers hatten einen Schaukelplatz, von dem aus ich direkt in den Himmel hineinschaukeln konnte. Ich habe noch nie solchen Trost wie bei diesem Schaukeln empfunden. Hier leben – und man konnte doch nur glücklich sein! Die Gruppenleiterinnen waren sehr nette junge Mädchen!

Frau Bacher kochte köstlich! Gerne denke ich an Stegers Küche, aus der so viel Gutes kam: Essen und menschliche Wärme, Geborgenheit, so kam es mir vor. Ein Raum wie im Märchen, mit niedriger Decke und riesigem Hozherd, klobigem Eichentisch. Frau Holle. Frau Bacher. Immer wieder träume ich bis heute von diesem Haus, dieser Küche, in die ich einmal eintreten durfte im Traum und von Frau Steger umarmt wurde und an den Tisch gebeten. Ich hätte (im Traum) für immer bleiben können und entschied mich doch dafür im letzten Moment den Bus mit den anderen noch zu erreichen… Warum bin ich nicht geblieben?

Es gab Eis im Haus zu kaufen und einen winzigen Tante Emma Laden, kurz unterhalb des Hauses, der Einzige im ganzen Tal, wo ich täglich kleine „Nutelladöschen“ zum Ausschlecken kaufte, die mir am Ende der Ferien fünf große Löcher in den Backenzähnen eintrugen, weil das Zähneputzen uns selbst überlassen war, und ich halt im Bett noch so gerne einen süßen Trost hatte.

Lora und Paula gingen mit unserer Gruppe spazieren Wir freundeten uns an. Ich hatte Freundinnen. Wir gingen direkt vom Haus aus in den duftenden Nadelwald hinauf bis zur Hängebrücke, die uralt, morsch über dem tosenden Bach in der Schlucht schaukelte. Leichtfüßig tänzelte Lora hinüber und wieder herüber zu uns, die wir uns nur schwer trauten über das wackelige Gebilde, nur mit einem Seil als Geländer, zu balancieren. Und wenn das geschehen war, genauso schwer wieder zurück, denn dieses war kein Rundweg, sondern der Weg endete für uns ganz unverständlich, an einer Geröllhalde, und wir mussten einfach nur wieder umkehren. Wir gingen über die heiße Landstraße nach „Steinhaus“, „Casipietra“, wo die Jungens wohnten, und über den schönen kühlen Höhenweg zurück.Wir besuchten den Holzschnitzer und den Steinesammler in ihren alten Berghütten, die wirklich original waren. Dort eintreten zu dürfen, wo die Almöhis wohnten, sie zu sehen, mit ihnen zu sprechen, ohne etwas zu verstehen, die Holzregale in der einzigen einfachen Stube bedeckt mit Masken oder Steinen zu betrachten und von meinem knapp bemessenen ‚Taschengeld aussuchen zu können, war Eintreten in eine andre Welt, die auch meine war, von der ich nichts gewusst hatte, die ich immer vermisst hatte und die nun zu mir kam. Ich erstand eine grausig zerfurchte Maske, die zu Hause später duftete und schöne Steine! Ich lernte hier den Bergkristall als meinen liebsten Stein kennen. Wir stiegen auf die Alm, gingen zum Wasserfall. Und wir verbrachten viele Nachmittage an meinem geliebten Bach, den wir auf für mich sensationellen unasphaltierten Feldwegen erreichten. Allein schon, dass eine von Menschen bewohnte Gegend unasphaltierte Straßen hatte, grenzte für mich an ein Wunder, war Ferien, Entspannung, gute alte Zeit, die Welt war in Ordnung. Wir lagerten uns am Bach auf der Waldwiese, spielten im Wasser, bauten Dämme, saßen mitten darin, um zu klönen, auf großen Steinen, immer wieder die Füße bis zur Gefühllosigkeit ins kalte Wasser steckend.

Es gab viel Freispiel ums Haus herum und wenig Spielraum innen. Am Haus zu sein, einfach schaukeln, auf der riesigen, hölzernen (was war hier nicht hölzern?) Drehwippe zu zittern und zu rasen., auf der Schaukel unter der Tenne etwas einsamer sein zu können, auf der Bank vorm Haus Eis zu schlecken, uns zu unterhalten, Ballspiele zu spielen. “Ein Tier mit „M“ zum Beispiel. Vom Balkon aus Melonenkernweitspucken zu machen, bei der uralten Tiroler Scheune mit ihrem Holzschindel gedeckten, mit großen Feldsteinen beschwerten Dach in der Wiese zu sitzen, uns zu unterhalten, als kleinere Kinder noch mit Rollenspielen vermischt, später mit immer mehr „Themen“, zum Beispiel die netten Jungen aus Steinhaus… Uns vorzubereiten auf den Bunten Abschlussabend, und die Modenschau. Kichernd entwarfen wir Kostüme mit dem, was da war. Die Abende in den Zimmern mit vielen Gruselgeschichten, aber auch geklampften Liedern, dem Erzählen in der Dunkelheit, nicht allein sein im Dunkeln!! Vertrauen, aber auch kindliche Grausamkeiten, wenn jemand anders war … Ich kam gut weg, als schüchternes, aber kluges und hübsches Kind. Ich wollte mich an diesen Ausschlussaktionen auch nie beteiligen, konnte sie aber auch nicht verhindern, und manchmal stimmte ich fast wider Willen ins Gelächter ein…

Versuchte es am nächsten Tag gutzumachen, so gut ich konnte. Bei Regenwetter waren wir im Haus! Wir saßen im Essraum und schrieben Briefe und Ansichtskarten, die nicht kontrolliert wurden. Heimweh trächtig war das!

Ich hatte trotzdem Heimweh. Bei solchen Gelegenheiten oder wenn ich mich auch nur hauch weise ungerecht behandelt fühlte, sowie abends im Bett, wenn es still wurde und keiner mehr wach war außer mir, setzte sich der graue Zwerg Heimweh zu mir und raunte mir ins Ohr, was alles unterdessen zu Hause passieren konnte, ohne mich, die schließlich alle bewachte und so lieb hatte, dass nichts passieren konnte. Auch Angst und Grauen kamen aus ihren Verstecken und ich konnte unmöglich aufs Klo gehen, ohne einen Mörder in meinem Rücken zu wissen. Gestalten standen in der Ecke und am Fenster. Ich konnte keinen rufen, zu keinem darüber sprechen und am nächsten Morgen war´s erst mal wieder überstanden. Und jetzt lähmt es fast meine schreibende Hand, das, was ich vorher noch so dringend erzählen wollte, ist verschwunden.

Im Steinbruch gab es ein Abschiedslagerfeuer, jedes Jahr, zu dem alle Kinder, die im Tal waren, kamen. Wir standen dort und ein gewaltiges Feuer loderte auf, wir sangen deutsche Volkslieder. Die Südtiroler, Ahrntaler, fanden das gut.

Immer wieder fuhren „Carabinieri“ durch das Tal. Italiener, die das nicht so gut fanden, hörte ich. Warum nicht?

Eis hieß „Gelati“ . Michaelchen „Michelele“ . Ich lernte ein italienisches Kinderliedchen und war darauf stolz wie Oskar. Ja, die Lieder! Wir sangen auch hier sehr viel, aber deutlich in anderer Stimmung als auf Borkum! Wir sangen beim Wandern, in der Wiese mit Klampfe, im Bus bei der Dolomitenfahrt oder der Heimfahrt.

Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen….Schöne blaue Adria….Si si,si, schenkst du mir noch einen Penny…. Auch alle Arten von Wanderliedern, später Folklore, schöne Schlager…

Trost und Sehnsucht war das Singen, Aufbruch in etwas Neues, Schöneres hinein, Ausdruck eines vollen Herzens.

Auf der großen Dolomitenfahrt berührte mich die gewaltige Bergwelt tief. Ich empfand sie als schmerzhaft schön, als Himmel fast. Ich sah Bruneck, Bozen, Cortina d’Ampezzo, den Lago di Misurina. Und das ist bis heute der südlichste Punkt, an den ich gelangt bin in meinem bisherigen Leben.

Traurig fuhr ich nach vier Wochen wieder ab. Was war das denn? Heimweh? Fernweh? Würde ich je wieder kommen? Mein Herz platzte fast. „Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder, Brüder auf Leben und Tod.“ „Wenn ich gestorben bin, dann tragt mich hoch hinauf, begrabt ihr mich im Tale, so steig ich selbst hinauf …Tirolerland, wie bist Du schön, so schön! Wer weiß, wann wir uns wieder sehn?“ Ich schluchzte. Gleichzeitig schlug mein Herz meiner Mama entgegen. Würde ich die Reise überleben? Lebte sie noch und holte mich tatsächlich ab? Gemeinsam konnten wir uns wieder besser um Papa und Oma kümmern …

Insgesamt war ich vier mal an diesem Ort, St. Jakob im Ahrntal! Ach ja, wir gingen sonntags in die goldüberladene Kirche, knieten in Bänken, in denen man kaum knien konnte, und bewunderten die Trachten der Frauen und Mädchen, die alle gleich angezogen und frisiert waren, mit Zopfkränzen nämlich. Das fand ich toll. Ich fragte mich, wie das ging, denn meine Mutter behauptete immer, meine Haare seien zu dünn für Zöpfe.

Das wunderbar nach Blumen Holz und Kuhmist duftende alte Dorf!!

Ich liebte es jedes Mal mehr, das Tal, das Dorf, das Haus, wenn auch mein Bach plötzlich begradigt war, was ich sehr traurig fand und wovon ich viele Jahre immer wieder träumte. Wenn es auch weniger Wiesenblumen und mehr Restaurants gab, weniger Traumwälder, dafür mehr Skipisten, weniger Blaubeeren … Ich liebte es! Ach ja, die Blaubeeren! Die kannte ich noch gar nicht und nun pflückten wir sie üppig im Wald, auch immer einmal für eine Speise, die Frau Bacher zubereitete: Blaubeerpfannkuchen! Mhh!

Und noch eine Begebenheit vom Geröllfeld: Wir waren über die Hängebrücke gegangen, wie oft, und nur einmal kurz aus Neugier, auf das Geröllfeld hinausgetreten. Plötzlich war der Stichweg in den Wald verschwunden, so sehr wir danach suchten! Es blieb keine andere Wahl, als geradeaus über das Geröllfeld hinunter ins Tal zu gehen und über die Straße zurück. Ein lebensgefährliches Unterfangen… Fräulein Hildegard setzte sich auf einen großen Stein und begann zu weinen. Und klein Petra wollte leben bleiben, und es kam ihr so vor, als würden sie hier oben sicher nicht gefunden. Da fasste sie sich ein Herz und ging vorsichtig tastend voran, den Geröllabhang hinunter, und alle folgten, auch Fräulein Hildegard. Wir erreichten die Straße, kamen drei Stunden zu spät in Haus Steger an. Die Bergwacht war schon losgegangen. Hinzu kam, dass natürlich keiner von uns feste Schuhe, geschweige denn Bergschuhe anhatte. Aber alle waren sehr glücklich, uns zu sehen und soviel ich weiß, gab es keine Vorwürfe.

Ja, ich liebte es. Liebte das Zusammensein, lernte dort meine allerliebste Freundin Gabi kennen, ein kräftiges, dunkelhaariges, rotwangiges, braunäugiges Mädchen im Gegensatz zu meiner blassen Zartheit. Sie war so lustig und doch so zartbesaitet, hatte viel Liebe für mich. Wir lachten, dass die Schwarte krachte und guckten uns die nettesten Jungen aus. „Bugs Bunny“, stand auf meinem Schreibmäppchen und meinem Ringbuch, auf meiner Schulbank.

Und sie erzählte mir ihren geheimsten Kummer, denn ihre Mutter war gestorben und sie hatte nun die legendäre böse Stiefmutter. Ich denke, ich konnte sie trösten. Ich selbst erzählte nicht so viel … Wir hielten ja zusammen, Mama und ich … Doch: Traurig war ich sowieso…

In Essen gingen wir Arm in Arm durch die Stadt und sangen (sehr laut): „Auf der Straße stand sie ganz allein, schaute traurig in den Fluss hinein, Tränen liefen über ihr Gesicht tadadada da sagte ich: OHOHOH Judy, Judy, Judy I love you, in meinen Träumen bin ich so lang schon Dein! Judy, Judy, Judy I love you, wenn Du mich liebst, bist Du nie mehr allein!“ Und wir genossen die empörten Klatschtantenblicke!! Ich besuchte sie in Holsterhausen und lernte ihre wirklich strenge, blonde und hagere Stiefmutter kennen und auch den rundlichen Papa mit den lachenden braunen Augen, der leider nichts zu sagen hatte. Wir hatten eine kindliche Liebe zueinander gefasst. Gabi musste dann ins Internat nach Attendorn, zu den Ursulinerinnen und unsere Freundschaft ging in eine Brieffreundschaft über.

Dies sollte eine Freundschaft für´s Leben sein!

Ich schrieb in mein Kindertagebuch: „Ich kann es nun nicht weiterschreiben, denn ich habe inzwischen wirklich andere Sorgen, aber ich werde es sowieso nie, nie vergessen.“

Ich muss es noch mal sagen: Die Situation zu Hause war jedes Mal in Tirol wie eine Bedrohung da. Wie ging es meinen Eltern jetzt? Papas Zustand wurde ja immer schlimmer. Meine Verlassenheitsgefühle, wenn es Abend und Nacht wurde, meine Überempfindlichkeit gegen Kränkung.

Müssen sie mich jetzt ganz „abstoßen“?

Zu Hause überfiel mich dann das Fernweh nach den Bergen, nach Tirol, nach der Gruppe. Ich empfand einen Riesenschmerz, wieder allein in der engen Wohnung im Pott zu sitzen. Ich saß auf der Fensterbank und schaute auf das schwarze Haus gegenüber, auf die enge, stark befahrene Straße, die Straßenbahn in ihrer Mitte. Der Kloß in mir, der Stein in mir tat weh, wohin damit?

Die Tagebucheintragung endete abrupt, wie meine Kindheit und meine Jugend zu Ende waren mit knapp vierzehn Jahren, wenn sie denn je wirklich stattgefunden hatten. Tirolerland – ersehntes Kindheitsland.

Zwischendurch gab es noch eine sechswöchige Kur in Oberstdorf im Allgäu, doch auch wieder von der Stadt Essen. Diesmal verlief sie gut. Ich war schon zwölf und der fünfzehnjährige Robert K. verliebte sich in mich. „Derjenige, der Dich zur Frau bekommt, kann mal froh sein!“ Warum sagte er das? Ich habe es nicht verstanden, aber natürlich war ich stolz darauf, denn Menschen froh machen war ja wohl mein Lebenszweck. Und ein bisschen verliebt war ich auch, wie konnte ich nicht, wenn jemand mir seine Zuneigung anbot!

Ich erinnere mich an Birgit M., an Birgit H., die goldblonde Schöne, die dann auch das Dornröschen in unserem Märchenspiel sein durfte. Was ich war, weiß ich nicht mehr, aber ich wäre sehr gerne das Dornröschen gewesen … Nachmittags gab es Haufen Marmeladenbrote auf dem Vorplatz des Hauses. Wir spielten Brennball auf einer dazugehörigen Weide, und danach oft Fangen, wobei Jungen uns Mädchen kleine Wiesenfrösche in den Pullover steckten. Als ich ein einziges Mal davon betroffen war, schrie ich so heftig vor Entsetzen, dass es nie wieder jemand bei mir versuchte. Ja, und einmal hatte ich solches Bauchweh und sagte es. Am Nachmittag, als dann gemeinsames Schwimmen gehen angesagt war, durfte ich deshalb nicht mitgehen, sondern sollte im Bett bleiben. Mein „Bauchweh“ war aber schon viel besser geworden und ich wäre liebend gerne nicht allein im Bett geblieben, wovor ich panische Angst hatte, aber in dem Fall sollte mir das wohl eine Lehre sein, nicht so empfindliche Äußerungen zu machen und damit die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich weinte so sehr im Bett, dass irgendeine Betreuerin mich schließlich erlöste und in ein Zimmer mit noch einem anderen kranken Kind brachte. Es tröstete mich einigermaßen, dass sie mir die Bauchschmerzen am Vormittag glaubte und auch das Verschwinden des Bauchwehs am Nachmittag.

Auch hier gab es Heimweh, aber auch Gemeinschaft, doch nicht vergleichbar mit meinem Tiroler zu Hause.

In den Zwischenjahren, ohne Verschickung, nahm ich in Ferienzeiten öfters an der „Stadtranderholung“ teil. Sie war in Essen Heidhausen in einer Dorfschule. Mit dem Bus fuhren wir morgens los und abends zurück. Wir spielten, sangen und bastelten und konnten draußen herumtoben. Das war eigentlich ganz schön und harmlos.

Das Schöne, so weit weg von zu Hause konnte plötzlich erkalten, wenn ein Mensch unfreundlich oder ungerecht war. Gleichzeitig stand die Schönheit der Natur über allem als unvergleichlicher Trost für mich Ruhrpottkind aus dem „Wahnsinnshaus“.

Und wenn gar nichts anderes möglich war, konnte ich für einige Tage zu meiner Tante Irmgard nach Langenberg.

In Langenberg

An meinem Geburtstag 2015 starb meine kleine Tante Irmgard! Sie war Mamas große Schwester, die sie immer im Blick behalten hatte. Auch mich hatte sie im Blick! Als ich sie im Januar das letzte Mal besuchte, und wir wussten Beide, es war das letzte Mal, sagte sie mit einem Satz die Bestätigung, die ich von irgendwem aus der Familie mal hören musste: „Ja, Du hattest eine schwere Kindheit.“
Und Tante Irmgard, die selber ihr Päckchen zu tragen hatte, war mit solchen Aussagen nicht verschwenderisch.
In Langenberg war ich Kind und durfte es sein! In der verfallenden herrschaftlichen Industriellen Villa von Köttgens, wo Königs später wohnten und wo Tante Irmgard als Bedienstete im Haushalt gearbeitet hatte, mit herrschaftlichem Park mit Pavillon, mit Schwanenteich, war ich oft zu Gast. Der Name König passte wunderbar zu der Umgebung, er regte meine Phantasie zusätzlich an.

Ak Langenberg Velbert Nordrhein Westfalen, Quellental, Villa Köttgen
Mit meinen Eltern fuhren wir öfters am Wochenende gerne nach Langenberg zu den „Königen“. Auch mein Papa, der zwar immer etwas nörgelte, weil ihm doch leicht langweilig wurde dort und er befürchtete, die kostbare freie Zeit falsch zu nutzen fuhr dann doch mit, und das will was heißen! Wir fuhren Samstag bis Sonntag, mit Übernachtung, und schliefen in den wenigen Betten und auf dem Sofa im Wohnzimmer der „Könige“. Zwei am Kopfende, zwei am Fußende, Papa meistens auf dem Sofa – na und? Wo ist da das Problem?
Mein Cousin Norbert war am ehesten wie ein Geschwisterkind für mich. Er war zart und blond und sehr empfindsam. Wir tuschelten und erzählten im Bett lange, wenn wir schon früh schlafen gehen mussten, während die Erwachsenen im Wohnzimmer erzählten und lachten. Irgendwann schliefen wir ein, während ich zu Hause meistens nicht einschlafen konnten. Ich wachte wohlig auf, wenn sie alle ins Bett kamen. Dann wurde es etwas eng und ungemütlich, aber geschlafen habe ich immer. Am Morgen war es beim Aufwachen sehr lustig, denn Onkel Karl Heinz zettelte eine Kissenschlacht an, was es bei mir zu Hause auch nicht gab, wir tollten wild im Bett herum, bevor wir aufstanden.
Tagsüber spielten wir zusammen Norberts Jungens Spiele . Holzklötzchen, Legos, kleine Autos fahren lassen auf dem langgestreckten Fußboden des überdachten Balkons, der glaube ich über die halbe Breitseite des Hauses ging.. Er hatte einen rauen, goldgelben Juteteppich, an dem die Kniehaut etwas aufgescheuert wurde. Die Eisenbahn stand geheimnisvoll hinter einer Tapetentür, in einem Raum „in den Wänden“ sozusagen, zwischen den Zimmern. In der marmornen Eingangshalle stand eine Tischtennisplatte. Dort unten wohnte auch Maike, die Tochter des Hausmeisters. Manchmal spielte sie auch mit uns.
Wir fuhren Roller auf dem Schotterweg vor dem Haus, kräftig bergab in Richtung der alten niedrigen Fabrikgebäude einer Seidenspinnerei. Hier stürzte ich einmal schwer und habe seitdem „einen kleinen Stein“ im Knie. Tante Irmgard leerte gefühlt eine halbe Flasche Jod über die Wunde.
Das war in irgendwelchen Ferien, sie hatte mich „genommen“ und war auch für mich da.
Norbert und ich streiften abenteuerlustig durch den Park mit seinem alten Garten Pavillon,  sogar bis zu dem kleinen Teich mit dem verbotenen Schwanenpaar, das gerade Junge hatte und flüchteten erschreckt, wenn sie fauchend auf uns zu rannten.

Historische Gartenhäuser in und um Wuppertal | Wuppertals grüne Anlagen - Förderverein Historische Parkanlagen Wuppertal e.V.

Wir, zumindest ich, taten überhaupt in allem so, als wären wir reiche Leute in dieser Villa, wenn Irmgard und Karl-Heinz auch nur zwei Zimmer mit Küche und Wintergarten hatten, so war doch das Haus und das Gelände da.
Wir kugelten über den üppigen grünen Rasen und spielten beim Rhododendron. Das gab es für mich sonst nur in Werden oder Bredeney und auf Mamas Arbeitsstelle im Stadtwald, also bei den Reichen im Essener Süden.


In der Engelbertstraße in Essen haben wir auf dem festgestampften Lehmboden des Hinterhofes keinen Grashalm züchten können.
Und Tante Irmgard war lieb, lachte gerne, war großzügig und konnte es gut mit Kindern. Sie kochte so gut! Und naschte und leckte heimlich die Finger in der Küche, was Onkel Karl-Heinz eklig fand und worüber er furchtbar schimpfen konnte!

Später:

Clemens kommentierte diesen Text als bisher sehr kindlich. Das hätte ich auch als Kind so ins Tagebuch schreiben können. Ja! Es sind die kindlichen Gefühle, die sich ausdrücken. Ich kannte sie nur als Kind und es widerstrebt mir, dieses Kindliche erwachsen auszudrücken.
Die Paradiesgefühle in diesem Park und das herrschaftliche Haus habe ich sicher hier beim Anblick unseres Parks in Wulfshagenerhütten wieder gefühlt. Das war ein Positiv Trigger und sicher mit ein Grund, mich hier schnell sehnsuchtsvoll zu Hause zu fühlen, ebenso wie die Gemeinschaft samt ihren Strukturen Trigger der Kinderheime waren, positiv von Tirol, negativ von anderen …
Von unserem Fenster aus kommt die Pippi Langstrumpf Kuh, weiß mit schwarzen Punkten in mein Blickfeld. Ja, das „Outfit“ ist paradiesisch und so ganz und gar anders als in Essen. Heraus gerettet, herausgehoben, entrückt. Aber doch nur scheinbar.

In meiner Erinnerung gibt es noch viele Silvesterfeiern, die wir in Langenberg erlebten. Das heißt, bis zwölf Uhr war ich glaube ich nie auf. In der Villa lagen Norbert und ich im holzknarzenden Schlafzimmer, schauten auf die hohe Stuckdecke und erzählten uns wer weiß was, während nebenan festliches Gelächter und Gläserklirren, später Fernsehgeräusche zu erlauschen waren und versuchten die Augen aufzuhalten, um so lange wach zu bleiben, aber es gelang nicht! Manchmal wurden wir um Zwölf geweckt und nippten am Sekt, wickelten eine Papierschlange um den Finger, aber oft verpassten wir den bedeutsamen, geheimnisumwitterten Jahreswechsel, weil wir kurz zuvor eingeschlafen und nicht wach zu bekommen waren.
Dann war die Enttäuschung am nächsten Morgen groß. Dennoch war es schön und festlich gewesen. Wir fuhren erst nach dem Abendessen jeweils nach Hause, eine Himmelfahrt war das! Mit Nudel- oder Kartoffelsalat im Bauch und Würstchen. Die Mayonnaise schwappte schon im Bus verdächtig hoch und entleerte sich manchmal zu Hause wieder, wenn ich sterbenselend in meinem schlaflosen Klappbett lag. Wir waren über Kupferdreh und Nierenhof mit dem Bus gefahren, das waren ganz eigene Dörfer und fast Städtchen, es war auch spannend, wir stiegen sicher drei Mal um, bis wir am Porscheplatz endlich ausstiegen, mitten in der grauen, schwarzen Stadt.

Porscheplatz in Essen Oktober 1977 Foto & Bild | deutschland, europe, nordrhein- westfalen Bilder auf fotocommunity

Dann gab es plötzlich sozusagen eine Vertreibung aus dem Paradiesgarten und die Könige zogen aus dem Schloss aus. Das war schmerzhaft, die Wohnung oben auf dem Berg in Langenberg, in der Hohlstraße, schien mir viel zu eng für sie. Wo war die schöne Weitläufigkeit und Freiheit, die gemütvolle Geborgenheit des Hauses und des Geländes? Sie kamen mir vor wie eingesperrt. Sie hatten auf dem Berg eine ganz nette Mietwohnung für Vater – Mutter – Kind. Klein und fein, mit winzigem Balkönchen. Onkel Karl-Heinz wohnt bis heute dort. Norbert bewohnte das Kinderzimmer und unser Spielen war nun sehr verändert, beengt. Nur selten gingen wir raus, obwohl rundherum viel Landschaft war. Wir gingen da mal herum, auch ein Stück die Straße hoch, aber nie sehr weit, nie in den Wald hinein. Aber die „Wochenendparties“ gingen weiter, mit viel gutem Essen, viel Sitzen und irgendwas zuhören, dann Aufstehen und etwas spielen, wieder Essen, in wenigen Betten schlafen, Toben.
Das nächste Ereignis war ein Baby!! Sie bekamen ein Baby! Ich war zwölf Jahre alt. Das war vielleicht süß und sozusagen der Traum meiner schlaflosen Nächte!! Ich hätte so gerne ein Geschwisterkind gehabt, ein Baby, ich träumte schon von eigenen Kindern, ich würde viele haben wollen und liebte Kinder.
Kurz nach der Geburt bereits nahm mich Tante Irmgard wieder für zwei Wochen und ich konnte nah dabei sein, wie dieses Baby versorgt, gewickelt, gefüttert wurde. Und als Höhepunkt in den Wagen gelegt wurde, den ich ganz allein die Straße ein Stück hoch und runter schieben durfte! Ich war selig. Karsten war ein schönes Baby und Kleinkind. Er hatte ausdrucksvolle Augen mit langen,dunklen, gebogenen Wimpern. Er wirkte etwas „kralliger“ als der sanfte, zarte Norbert.
Norbert hatte mittlerweile ein eigenes Zimmer unterm Dach des Hauses. Da war sie wieder, die etwas freiere Situation. Zum Spielen gingen wir nun zwischen den Mahlzeiten nach oben. Oft war die Eisenbahn oder eine Carrerabahn aufgebaut. Alles fuhr im Kreis, für mich war es langsam etwas langweilig. Nur hier spielte ich auch Auto – ,Schiffs – und Flugzeugquartett. Ich gewann selten und konnte mich dafür auch nicht so recht erwärmen. Trotzdem war es besser, als zu Hause rumzuhängen vor dem Fernseher und dann noch den unvermeidlichen Stadtrundgang zu machen.
Außerdem waren wir immer noch gerne zusammen. Nun waren die drei Jahre Unterschied deutlicher spürbar, denn bei mir klopfte die Pubertät langsam an, Norbert war voll Kind.
Ich sag mal, Onkel Karl-Heinz hatte einen dicken Wilhelm Busch Band, in den ich mich immer öfter vertiefte und so die Bildgeschichten sehr gut kennenlernte. „Die fromme Helene…“
Schön war es auch in der Küche, beim Kochen und nach dem Essen, wenn kein Mann zu sehen war, herrschte eine sehr nahe und solidarische Frauenstimmung hier. Manches liebe Leiden mit Ehemännern und auch sonst wurde ausgetauscht, kleine Tränen flossen manchmal, wie in einer Küchen Seelsorgestation. Auch wurde ich, verzeih Onkel Karl – Heinz, hier beschenkt mit heimlich zugesteckten kleinen Scheinen, von denen der Onkel nichts wissen durfte. Das war so eine Art Tradition. Bei uns zu Hause war das genauso, dass Mama sich wer weiß woher etwas ab sparte und anderen oder mir als Geschenk zusteckte, von dem der Papa nichts wissen durfte. Ich kam mir gespalten vor, wollte keine Geheimnisse, und fühlte mich doch auch geliebt und bedacht. Gesprochen hat sie aber selten mit mir, mich in meiner Kindernot sonst nicht angeredet, nur kleine mitfühlende Sätzchen fielen, die mir zeigten, dass sie mich schon sah und diese Großzügigkeit im Beschenken.
Ich verstand, dass beide Schwestern es nicht leicht hatten in ihrer Ehe, wobei meine Mama wohl doch viel schlimmer dran war. Ich machte mir viele Gedanken, warum das so sein musste und hatte viele Träume und Idealvorstellungen, wie es doch auch ohne Probleme sein könnte.
Dann kam der Rieseneinschnitt mit der Psychose meines Papas.
Wir wurden als Familie immer bedürftiger und kränker. Mit vierzehn Jahren brach der Kontakt von meiner Seite her nach Langenberg fast ab, weil ich nun zu dieser unsäglichen Jugendheim Clique gehörte und mit diesem unsäglichen Jürgen auf unsägliche Weise liiert war. Ich war besetzt und besessen und krank und hatte sehr bedürftige Eltern und die Schule und eine Gruppe und, und, und.
Die Zeiten in Langenberg werde ich nie vergessen, und die lieben Leute nicht. Meinen Cousin Karsten konnte ich deshalb als Kind nicht so kennenlernen wie Norbert, leider, denn ich fand ihn sehr süß. Aber später, als Erwachsene hatten wir einige Begegnungen, es gab echte Berührung, das war sehr schön und wir konnten von unserem erwachsenen Standpunkt aus alles nochmal neu beleuchten und uns kennenlernen.
Auch Norbert habe ich in den letzten Jahren einige male getroffen. Wir kennen uns noch, würde ich sagen, aber wir haben uns nicht viel ausgetauscht. Mein Gefühl ist aber, dass die Verbindung bestehen bleibt, etwas, worauf man zurückgreifen kann, Familie halt.