Lenchens Weihnachten

Lenchens Weihnachten

Lenchens Weihnachten

Es fällt mir nicht leicht, über meine Kinderweihnachten zu schreiben. Es kann nicht einfach eine Geschichte werden. Ich möchte ausdrücken, was sich für mich als kleines und größer werdendes Kind immer wiederholt hat, mit geringen Abwandlungen, und was auch immer noch mein Empfinden zu Weihnachten hin prägt und mich, gerade an Weihnachten, in tiefe Erschöpfungszustände geraten lässt, in Traurigkeit und Sehnsucht, in Ruhe gelassen zu werden, oder mich aber doch in Überaktivitäten geraten lässt, die mich in der Folge von mir selber trennen und Depressionen hervorrufen. Da weint und schreit was Kleines, das einfach nicht mitgenommen wurde, nie so klein sein durfte, wie es war, nie einfach empfangen durfte.
Deshalb erzähle ich von Lenchens  Weihnachten, und es sind also verschiedene Feste, mit Dingen, die sich traditionell wiederholten, Mechanismen, die immer da waren bei Menschen, Peinlichkeiten. Ja, wenn ich von früher erzähle, wird es schnell peinlich, düster, unheimlich, man glaubt es kaum. Aber wie gesagt, ich möchte deshalb nicht verstummen, möchte irgendwann mal dazu stehen können, dass auch so was erzählt werden darf. Ich muss niemanden zum Lachen bringen, vielleicht auch nicht zum Weinen. Man darf wahrnehmen, was ich erlebt habe.
In all dem auch ein tiefes berührt Sein im innersten Kern, ohne Manipulation, von der Realität eines liebenden Gottes. Das hat mich sicher mit am Leben erhalten, bei aller Verunsicherung, warum ich geboren wurde und ob ich nicht nur eine Last war, gab es diese Momente, und zwar genau an Punkten verdichteter Bedrängnis, wie zum Beispiel an Weihnachten.

Wir befinden uns in den Mitte Fünfziger bis Anfang der siebziger Jahre, eine Zeit, die mit „Aufschwung“ und „Wohlstandswachstum“ bezeichnet wurde. Ging es uns allen wirklich wieder gut?
Die Zerstörung war viel tiefer gegangen, als alle damals ahnten. Zwar waren die restlichen Ruinen und Trümmergrundstücke meistens hinter langen Reihen von grellen, vielversprechenden Plakatwänden versteckt, aber sie lagen doch noch sehr lange dort, immer mehr überwuchert von Brennnesseln und Beifuß, und streuten Ratten in die Viertel aus, die in die Höfe, Mülltonnen und Kartoffelkeller massenhaft eindrangen und Frauen und Kinder zu Tode erschreckten beim Müllwegbringen, Kartoffeln und Kohlen holen, beim Waschen in der Waschküche im dunklen Keller. Noch drängten wir uns durch Ritzen und über Mäuerchen in die Trümmer, um Vater-Mutter -Kind zu spielen, und schauerliche kleine Entdeckungen zu machen: Mauerstücke mit Tapetenresten, zerbeulte Töpfe, ein Bilderrahmenrest.
Und in den verletzten, verdorbenen Seelen dauerte dieser Zustand der überwuchernden Trümmer, der plagenden, alles verseuchenden Ängste, Fragen, Schuld noch viel länger an, ja noch jetzt können wir in uns die Auswirkungen dieses Krieges wahrnehmen und damals waren gerade mal zehn, fünfzehn Jahre seit Kriegsende verstrichen, so gut wie nichts.
Das Mädchen, das ich bin, heißt hier Lenchen.

Sie waren einkaufen in der Stadt…Geschenke, Geschenke!
Haben sie keinen vergessen? Was würden sie essen?
Es ist kalt und feucht, früh dunkel und die Weihnachtsschmuckbeleuchtung glitzert. Es glitzern die Schaufenster, voll mit den schönsten Sachen. Bei Roskothen!! Die Puppen! Lenchen wollte immer schon nur Puppen, Puppenstuben, Kaufmannsladen, Kinderwagen. Kuscheltiere nicht, sie hat ja ihren großen Bären, den Jochen Petz; er spricht mit ihr abends im Bett, wenn sie traurig ist und Angst hat. Er ist ihr großer Bruder. Sie drückt ihn an sich und saugt an seiner Nase.
Es ist ein langer Weg nach Hause mit vollen Taschen. Sie lassen das Glitzern hinter sich und tauchen ins Schwarz von Zechen und Staub hinein.
Sie kann nicht mehr, Mama auch nicht. Sie hängt sich trotzdem an Mamas Jacke, die zieht sie ein Stück und schimpft dabei.Es ist einfach zu viel nach langen Arbeitstagen.
Wenigstens muss alles Andere dann brav sein und gut klappen.
Jetzt sind die Geschenke versteckt, der Braten eingelegt, der Baum ist besorgt. Er hängt von außen am Fenster, zum Hinterhof hinaus.
Es gibt nicht viele Möglichkeiten, die Geschenke zu verstecken und Lenchen ist so neugierig, dass sie danach sucht, wenn Mama noch nicht von der Arbeit zu Hause ist und sie mit ihrem Schlüssel aufgeschlossen hat, von Kindergarten oder Schule kommend und nun allein da ist, oder wenn sie krank ist und das Bett hüten muss und Mama und Papa arbeiten. Sie findet bald alles, ja wirklich, es wird was geben! Zum Glück ist wenigstens das Meiste in buntes Papier eingepackt …

Weihnachten ist das Fest der Liebe. Alle müssen sich versöhnen und lieb haben, wenigstens an diesem Tag … Papa wird arbeiten müssen. Er ist unter Tage. Das wird schwer sein am Heiligen Abend, sie werden ängstlich sein, ob alles gut geht, denn es ist nur eine Notbesetzung unten. Sie werden im Radio eine Sendung für Seeleute und Bergleute hören und weinen.
Später dann war er lange Zeiten in der Psychiatrie, auch an Weihnachten, denn es war nie klar, ob er leben wollte, oder nicht, oder in anderen Krankenhäusern. Papa hatte viele Krankheiten. Natürlich wurde er dann wenn möglich täglich besucht.
Ihre Oma ist natürlich eingeladen worden, wie immer, aber sie will nicht kommen! Oder vielleicht doch? Wenn sie ganz lieb zu ihr ist? Leider kann Oma die Mama nicht leiden und ist böse auf Papa. Lenchens Bild, das sonst über ihrem Sofa hängt, steht wieder vor der Tür, wie immer, wenn sie beleidigt ist und nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Das macht Lenchen Angst und sie ist sehr traurig!
Papa ist wütend auf Oma, auf Mama, auf den Baum, auf sie, auf die Arbeit und auf´s Leben.
Mama weint oft und ermuntert sie, alles dazuzutun, damit es doch ein schönes Fest wird.
Das Christkind wird kommen und alles gut machen. Und es bringt ja auch die Geschenke … darauf sollte sie sich vor allem freuen.
Sie will das auch, aber ihr Hals ist zugeschnürt und ihr Herz verkrampft. Natürlich ist Erwartung da!
Wie durch Zauberhand verstärken sich aber „vor dem Fest“ alle Probleme, Nöte und Schwierigkeiten bis zum Äußersten.
Jedes Jahr gingen sie am Heiligen Abend nach der Bescherung und dem Essen in St. Barbara zur Christmette. Schon als ganz kleines Mädchen war Lenchen jedes Jahr dabei und hatte bei diesem Kirchenfest helle, freundliche, warme Gefühle in der Kirche. Das war nicht immer so! Bei vielen Gelegenheiten fühlte sie dumpfe, dunkle Angst, bis hin zu Ohnmachtsanfällen, sodass man sie vor die Tür bringen musste.
Besonders dann, wenn es um den blutenden Jesus ging, an dessen Bluten sie, das war ihr schon sehr früh klar, eine Mitschuld hatte! Oder wenn sie die verbissenen, verfeindeten Gesichter der Menschen sah, die von der Kommunion zurück in die Bänke strebten.
Dieses Fest der Neugeburt des kleinen Kindes war aber in ihr wunderbar, auch die Gesichter erschienen ihr neu überglänzt.
Immer ging sie hin an Mamas Hand, saß neben ihr in der Bank und betrachtete die Bilder ihres Kindergebetbuches, sang schon früh sehr laut alle Lieder mit.
Papa war ja manches Mal unter Tage, oder nicht da, und wenn er da war, wollte er doch meistens nicht mit, denn er war auch wütend auf die Kirche, ja oft sogar auf Gott. Das war ein großer Schmerz in Mamas Leben und auch in ihrem Leben, denn sie vermisste ihn einfach überall und es verwirrte sie auch, denn Papa war ja klug und wusste oft Vieles.
Seit ihrem achten Lebensjahr wirkte sie dann aktiv in der Kirche mit:Singen, Flöten, Cello spielen. Sie darf auch die Register an der Orgel ziehen beim „Transeamus usque Bethlehem“, und in alle Stimmen springen, denn ihr Chor ist eine kleine Mädchen Schola und hat nicht viele sichere Stimmen. Also singt, zieht und springt sie und spielt noch ein Cellostückchen vor. Alles oben auf der Empore.
Sie war auch einige Male Maria beim Krippenspiel. „Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein..“ Es ist viel Arbeit und Üben und kurz vor Weihnachten wird es immer mehr und immer gereizter. Aber sie liebt es trotzdem, diese Lieder und das kleine Kind in der Krippe sind ihr ganz nah. Die Hirten und Josef sind ihr ganz nah!
„Christ ist erschienen, uns zu versöhnen“
Das ist ein Trost!
Am Heiligen Abend putzt Mama und schmückt den Baum, nachdem Papa, sofern er da ist, ihn mit viel Fluchen und Schimpfen, das ihr Angst macht, aufgestellt hat. Anschließend tut ihm das Leid und er geht mit ihr durch die dunklen Straßen spazieren. Sie genießt das Gehen in den kalten, dunklen Straßen an seiner Hand. Die hellerleuchteten Fenster der Wohnküchen schimmern zu ihnen heraus. Sie kann Papa nicht böse sein, sie versteht ihn ja! Es ist einfach alles zu viel, bei der Arbeit, zu Hause mit der Oma, seine Krankheiten. Dann auch noch sie. Tröstend drückt sie seine Hand fester, und so geleiten sie sich gegenseitig. Papa kennt sich aus, sie macht, dass er ruhiger wird und leben mag.
Wieder zu Hause angekommen ertönt schon im Hausflur ein feines Glöckchen. Sie darf, mit oder ohne Papa endlich in die Wohnküche. Dort ist ein so schönes Licht nur vom Weihnachtsbaum, der zart und lebendig geschmückt ist, mit Silberlametta, verschiedenfarbigen Kugeln. Kleinen Goldpäckchen, kleinen Vögelchen, alles ist bunt und glänzt. Die Geschenke liegen unter dem Baum und alle Möbel stehen anders als sonst da. Nun wird ergriffen gesungen: „Stille Nacht, Heilige Nacht“….Christ der Retter ist da …!
Lenchen darf nun Geschenke abgeben und auspacken. Mama weint noch ein bisschen, denn Oma ist tatsächlich nicht gekommen, sitzt grollend und im schmuddeligen Kittel nebenan, die Tür verriegelt.
Papa, falls er da ist, ist jetzt gelöster und freut sich hauptsächlich aufs Essen, das dann auch kommt: Braten, Hähnchen oder Schaschlik.
Wer kennt die schöne Sendung: „Wir warten aufs Christkind“? Auch der Fernseher spielte in späteren Jahren eine Rolle und flimmerte immer wieder auf, mit dieser Stunden dauernden Sendung und über die Tage verteilten schmalztriefenden Filmen, die ablenken konnten vom allgemein sich ausbreitenden Seelenschmerz.
Nachdem der tragisch -schöne Abend unterm Baum verbracht ist, gehen sie also zur Kirche und Lenchen wird ganz aktiv: als Maria oder oben auf der Empore. Ein Gefühl von großer Wichtigkeit ergreift sie, denn nun sitzen da viele Leute und nichts darf schiefgehen. Marlies, die Chorleiterin und Organistin ist hochrot und aufgeregt. Sie kichert oft und greift beim Orgelspielen daneben. Lenchen zieht die Register genau im richtigen Moment und springt hin und her in die Stimmen, damit jede ihren Einsatz bekommt. Dann ein Flöten – oder Cellostückchen. Sie bemerkt Blutflecken an ihrem Festkleid, denn sie hat sich die Daumen so blutig geknibbelt, dass es rot herunterläuft.
Endlich ist es vorbei!
Wieder zu Hause spürt sie, dass es schön gedacht ist: Wieder beim Baum und der Krippe, bei den Geschenken, jetzt ganz für sich allein, fühlt sie, dass alles gut werden könnte. Sie liebt dieses kleine Kind, das Frieden bringt und irgendwie macht, dass alle sich versöhnen.
Sie müssen es allerdings auch tun! Und so geht ihre Mutter, Lenchen an der Hand, am nächsten Morgen zur Oma, um sie zu bitten, wieder gut zu sein, sei es auch nur „um des Kindes Willen“. Das Babybild hält sie dabei in ihrer Hand. Aber Oma will noch nicht, erst irgendwann nach Weihnachten wahrscheinlich. Vielleicht nie mehr. „Das Liebchen“, Lenchen, darf aber reinkommen und etwas bleiben. Mama muss gehen. Oma erzählt Lenchen,, dass die andere Oma, die wir morgen besuchen werden, asozial und eine fette Kuh ist, die man gar nicht lieb haben kann. Was soll sie davon halten? Oma Else ist Mamas Mutter … und sie ist sehr arm. Lenchen hat sie trotzdem lieb. Sie liebt sie alle, die miteinander nichts anfangen können.
Papa will auch nicht zu Oma Else, es ist ihm dort zu dreckig und der Weg nach Gladbeck mit dem roten Bus zu weit. Er ist müde, will nur Ruhe haben. Mama weint und zwingt ihn, trotzdem ja zu sagen. Der Besuch wird morgen sein, am zweiten Weihnachtsfeiertag.
Vielleicht kommen heute Tante Irmgard und Onkel Karl – Heinz mit ihrem Cousin Norbert …das wäre toll, ein Kind! Und einfach eine Stunde spielen, wenn es auch nur irgendein doofes Auto – oder Schiffsquartett ist. Vielleicht kommen sie auch nicht, dann wird sie im Schlafzimmer in ihre Welt eintauchen. Mama lässt die Wohnzimmertür ein Wenig offen, damit es dort etwas warm wird, denn Ofen gibt es nur im Wohnzimmer. Dann hat sie für kurze Zeit etwas Raum für sich.
Oder sie liest, liest, liest, denn natürlich: Bücher, Bücher, Bücher außer Puppen und nach den Puppen waren ihre Welt und ihr Trost.
Aber der wahre Trost wird kommen. Ein Funke ist immer in ihr, weil dieses kleine Kind ja zu den Hirten gekommen ist und zu denen, die „arm und elende“ waren.

Zu Bethlehem geboren
ist uns ein Kindelein!
Das hab ich auserkoren,
sein Eigen will ich sein!

In seine Lieb versenken
will ich mich ganz hinab.
Mein Herz will ich ihm schenken
und alles was ich hab.

O Kindelein von Herzen
will ich dich lieben sehr!
In Freuden und in Schmerzen,
je länger mehr und mehr.

 

Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren.
Und hast mich dir zu eigen gar
eh ich dich kannt erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden….

 

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Und hört und seht : Transeamus usque Bethlehem