Im August 1978
Nachdem Lene nun schon einige Jahre Schwesternhelferin des Malteser Hilfsdienstes war und oft im Krankenhaus ausgeholfen hatte, arbeitete sie in den Semesterferien zum wiederholten mal auf der Pflegestation des von Nonnen betriebenen katholischen Altenheimes, was dazu beitrug, sie an den Rand ihrer schon nicht mehr reichlich vorhandenen Kräfte zu bringen. Morgens erwachte sie mit Kopfschmerzen, die sie wie gewohnt mit Kaffee verscheuchte, am Vormittag bekam sie auf der Station Schwindelanfälle und nachmittags und abends litt sie unter Herzbeschwerden mit Atemnot. Auch unter der daraus resultierenden Panik… Sie kannte diesen Vorgang, der als „psychsomatisch“ eingeordnet und damit abgehakt war ja nun schon, und versuchte, so gut es ging, darüber hinwegzugehen. Das Schlafen wurde noch problematischer, zumal sie nun auch wieder zu Hause war und sich dort alles Elend auf sie senkte.
Zurück zum Altenheim. Sie schrieb eine Begebenheit als Anekdote in ihr Büchlein, die ich wiedergebe:
Frau Paulke, zart gegliedert, mit großen, blauen, leicht in Tränen schwimmenden Augen, sitzt wie auf heißen Kohlen in ihrem Sessel. Sie braucht nichts zu tun, sie hat nichts zu tun, sie darf nichts tun. Nichts, Nichts, Nichts.
Das Essen steht dampfend auf dem Tisch, ein Knopfdruck , und sie ist nicht mehr allein: der Fernsehapparat. Ihrem Sessel gegenüber.
Frau Paulke hat lange in Berlin gelebt, nun ist sie umgezogen, zu ihren Kindern. O, pardon, in die Nähe ihrer Kinder!
Sie hat ein Bett, einen Schrank, Tisch, Sessel, Radio, Fernseher, Waschbecken. Die Verdauung funktioniert, denn das Essen kommt pünktlich und ist angereichert mit allerlei Vitaminen. Gesund! Den Rest tun die Medikamente dazu. Drei mal täglich…Zum Beispiel Schlaftabletten, denn wovon sollte Frau Paulke müde sein?
Ab und zu steht Frau Paulke auf dem spiegelblank geputzten Flur und wartet auf Menschen, aber es kommen nur Nonnen und Helferinnen vorbei, also Essen und Medikamente.
„Man muss sich immer freundlich und liebenswürdig begegnen, das Gute sehen…“ in den hellblauen Augen schwimmen Tränen. Eine Aushilfe fühlt, dass sie Mensch ist und bleibt stehen, um sich anzusehen, wie schrecklich lange der Tod dauert, um Frau Paulke einen Moment glauben zu machen, dass sie auf einen Menschen gestoßen ist.
Das ist zu viel! Ganz in weiß steht „dem lieben Heiland seine Schwester“ dräuend auf der Schwelle.
„Frau Paulke hat, was sie braucht, komm, komm, komm, wir müssen fertig werden“ Eine frisch gestrichene blank gewienerte Tür wird vor in Tränen schwimmenden blauen Augen zugeschlagen.
Es ist 17.55.Uhr. Die Aushilfen sind mit ihrer Arbeit fertig.
Die Nonne fühlt, dass sie Mensch ist und entlässt die jungen Mädchen vorzeitig.
Man hätte Frau Paulke mit diesen fünf Minuten den Tod verkürzen sollen…
Tatsächlich wollte Lene diesen Besuch nun in ihrer Freizeit machen, doch auch das wurde nicht gestattet, Frau Paulke könnte sich daran gewöhnen, dann sind die Scherereien anschließend bei den Schwestern.