Erzähl mir von früher

2012

Erzähl mir von früher

Am Tisch sitzen

wie festgebunden auf dem Stuhl.

Festgebunden durch Erzählungen.

Ich gehe mit kleinen und größeren

leidenden Kindern durch unsagbare

Welten von Bombenfall, Trümmern

und Feuersbrünsten.

Ich gehe ohne Schuhe über glühende Steine

und versuche auszuweichen.

Ohne Schuhe stundenlang über Bahngleise

zur einzigen Schule, die noch steht.

Ich hungere mit ihnen und esse Wassersuppe.

Die zerplatzten Häuserwände geben Reste

von Zimmern frei, die einmal Schutz boten.

Das kenne ich auch noch von manchen

Häuserresten in unserer Zeit.

Ich hungere mit ihnen und sterbe

halb vor Angst im Bunker,

erschüttert von Explosionen.

Ich weine vor Verlassenheit in fremden Landen

ganz allein…

Ich zittere, denn die Menschen

sind so verzweifelt böse, stumm

und hinterhältig.

Unsere Nachbarn aus Ostpreußen

sitzen in gut eingerichteten Wohnungen.

Sie wurden dort eingewiesen und kamen mit Nichts.

Die Möbel, das Geschirr – von wem?

Die Riesensynagoge sehe ich brennen.

Wo sind die, die früher dahingingen?

Mein Gott, meine Eltern

waren doch noch Kinder!

Woher sollten sie das denn wissen?

So sitze ich stundenlang

und bin nicht ich,

angefüllt mit den Geschichten derer,

die überleben mussten,

um mich überleben zu lassen.

 

Kinder lieben Erzählungen und sie lieben es, wenn Erwachsene sich Zeit für sie nehmen. Trotzdem waren diese Erzählungen schwer zu ertragen, denn die Erwachsenen erlebten regelmäßig ihre vielfältigen Traumata nochmals und das übertrug sich auf die zuhörenden Kinder. Auch wurden sie unvermerkt zu „Therapeuten“, die den armen Opfern zuhörten, denn Opfer müssen reden.  Die Kinder luden so die seelischen Trümmer von Eltern und Großeltern auf sich, verleibten sie sich ein, übrigens genauso, wenn ausdrücklich nichts erzählt wurde. Ich erlebte es beim Erzählen sehr stark, konnte mich nicht abgrenzen im Mitleiden, Nacherleben. Gleichzeitig spürte ich, es tat den Eltern und Erwachsenen gut, und dazu war man ja schließlich auf der Welt, oder? Um ihnen das schwere Leben etwas leichter zu machen …