Kumpel Hans

Mein Papa der Kumpel

und ich

„Was heißt hier psychisch krank? Oft sitzen die Sensibelsten in Psychiatrien als Spiegel einer Gesellschaft.“
aus einem Leserbrief der Zeitung „Publik Forum“

Ausgebrannt
Das Leben ist ein Feuer.
Nicht Asche, Schlacke bin ich.
Spröde und ohne brennbare Substanz.
Nun wärmt mich die Glut.
Ich werde überleben

Johann Kremer

 

Kumpel Hans

Mein Papa war ein Kumpel unter Tage. Das sagte er selbst mit einer gewissen Ironie, einem Hauch Bitterkeit, manchmal war es etwas spaßig, manchmal richtig gefährlich, lebensgefährlich. Ja, es schien oft der Grund dafür zu sein, warum er nicht mehr leben wollte, oder zumindest ein entscheidender Grund. Der eigentliche Grund war, wie ich es oft fühlte, wohl ich, denn wäre ich nicht gewesen, hätte Kumpel Hans die Zeche schon sehr bald verlassen. Oft sagte er sogar, er wäre lieber Penner geworden, oder Klosterbruder.
„Der Kumpel ist der Arsch der Welt, wenn du die Welt als Körper ansiehst“, sagte er oft zu uns, zu mir. So musste ich halt damit leben, dass mein schöner, intelligenter, feinfühliger, armer, kranker Papa von anderen als der „Arsch“ angesehen wurde und sich wohl auch selbst oft so fühlte. Zumindest fühlte er sich so behandelt als Kumpel.
Unter Tage gab es Steiger und Obersteiger, die das Sagen hatten und oft furchtbar ungerecht, angsteinflößend und überfordernd, ausbeuterisch waren. Sie wollten Dinge von meinem Papa, die ihn schier umbrachten und die er doch immer zu erfüllen versuchte, aus Angst, sonst den Job zu verlieren, an Türken zum Beispiel, und die Familie nicht mehr ernähren zu können. So bekam er immer mehr Verantwortung, ein Teufelskreislauf, denn er wehrte sich wohl nicht, hatte damit schlechte Erfahrungen gemacht. Er fühlte sich ausgeliefert. Dann gab es noch die Bonzen. Die Bonzen kamen im Anzug zur Grubenbesichtigung, bemüht feinstes Hochdeutsch zu sprechen und die Kumpels bloßzustellen und kleinzumachen. „Kommen ßie einmal her …“ äffte mein Papa sie nach, wenn er wieder mal davon berichtete, um sie dann mit angewidertem Gesicht und abwehrender Handbewegung abzutun.
Gleichzeitig verstand er auch nicht, warum viele Kumpels ungebildet blieben und sich mit der grammatikalisch falschen Sprache abfanden.
Samstags las er uns meistens die Kolumne „Kumpel Anton“ vor, amüsiert, weil er sie so treffend fand und leicht angewidert, weil er eigentlich nicht dazu gehören wollte, oder sich als anders empfand. Meine Mutter musste zwar unwillkürlich lachen, tat sie dann aber auch jedes mal als „blöd“ ab und fühlte sich diskriminiert.
Ich selbst habe sie meinen Kindern vorgelesen, die sich köstlich amüsierten, sich kringelten vor Lachen und sie immer wieder hören wollten
Es war ihm unglaublich wichtig, immer peinlich saubere Fingernägel zu haben und die Augen reinigte er sich mit „Borwasser“, wenn er nach Hause kam. Trotzdem behielten sie den typischen Bergmannsglanz, wie von einem leichten Kajalstrich.
Täglich war sein erster Gang nach der Schicht der zum Kühlschrank, als wir denn endlich einen hatten, und er trank fast einen Liter Milch.

Hans hatte mit 14 Jahren auf Katharina oder Joachim angefangen, das weiß ich nicht mehr genau. Er wurde sofort unter Tage eingesetzt für alle möglichen, schweren Arbeiten, und absolvierte so seine Hauer Lehre. Er musste körperlich hart arbeiten und beschwerte sich oft über fehlende Sicherheitsmaßnamen, Werkzeuge, Ausstattung. Er empfand das Arbeitsklima als bedrohlich, meinte, unter Tage gelte noch der alte Nazigeist, er käme sich vor wie ein Zwangsarbeiter und würde oft schikaniert. Auch die Kumpels untereinander gönnten sich im wahrsten Sinn des Wortes kaum die Butter auf dem Brot. Seine Brote waren oft geklaut, seine Flasche geleert. Später ordnete er das als konkrete Bedrohung ein, um ihn zu verunsichern. Hatte er sich mit „revolutionären“ Äußerungen zu weit vorgewagt? Über die Gewerkschaft beschwerte er sich häufig. Die Gewerkschaftsfunktionäre würden die Kumpel nicht vertreten, sondern nur ihre eigenen Vorteile. Später bereute er, zu Hause so viel ausgesprochen zu haben und war sich sicher, dass wir völlig verwanzt waren und abgehört, ausspioniert wurden, (was natürlich nur in der DDR der Fall war, bei uns doch nicht – oder?).
Manchmal kam er auch mit ungegessenen Stullen wieder nach Hause, den „Hasenbroten“, die ich sehr gerne aß. Sie schmeckten nach Rauch und Stein, geheimnisvoll. Er brachte mir einmal einen großen Magneten mit nach Hause, mit dem ich eines Tages alle Stecknadeln vom Teppich „saugte“, froh dass meine Mutter nun nicht merken würde, dass sie mir hingefallen waren. Die blieben nun in den nächsten Jahrzehnten aneinander hängen …
Eines Tages brachte er eine Kohlenplatte, in die versteinerte Muscheln eingedrückt waren mit und erklärte mir, dass hier früher Meer gewesen sei.
Nach einigen Jahren machte Papa eine Zusatzausbildung zum Elektrohauer. Ich weiß nicht, was er sich davon versprochen hat. Die Arbeit war unglaublich schwer. Dicke Kabel mussten durch niedrige, nasse Flöze gezogen werden, kilometerlang, außerdem nahm seine Verantwortung noch zu. Er machte sehr viele Überstunden, oft Wechselschichten, war an Feiertagen wie z.B. Weihnachten nicht zu Hause und wurde immer nervöser. Oft klagte er, die Arbeit samt Arbeitsklima nicht mehr zu ertragen, hatte aber auch nicht den Mut, eine „Umschulung“ ins Auge zu fassen. Dann gab es „Feierschichten“, die auch nicht gut waren. Es gab weniger Lohn.
Hans hatte unter Tage verschiedene Unfälle. Er kam unter einen Zug und brach sich zum Glück nur das Schlüsselbein. Das hieß krank feiern. Wenn man krank „feierte“, durfte man die Wohnung nicht verlassen. Kontrolleure von der Knappschaft wurden ängstlich befürchtet. So wagte er, obwohl er nur die Sache am Schlüsselbein hatte, keinen Spaziergang. Ein andres Mal hatte er den kleinen Finger gebrochen und war ebenfalls an die Wohnung gefesselt. Einmal in der Schlüsselbeinzeit wagte er einen Ausbruch. Wir fuhren am Sonntag nach Werden und mein Vater ruderte uns etwas um die Brehm Insel herum. Das sollte sogar gut sein für die Heilung. Dennoch war währenddessen die Angst riesig und verdunkelte uns diese seltene, schöne Ereignis.
Er hatte mehrere Bandscheibenvorfälle und große Probleme mit dem Rücken. Oft sah ich ihn Vom Fenster aus schon wieder „schief“ aus dem Bus steigen. Dann verletzte er sich bei einem größeren Unfall die Schulter. Der Arm kugelte aus und ging von selber nicht wieder ins Gelenk. Im Krankenhaus, ging der Arm erst durch eine Art Flaschenzug, an dem er hochgezogen wurde, wieder rein. Von da an kugelte der Arm sehr oft aus und jede Bewegung wurde unberechenbar. Trotzdem arbeitete er weiter. Als schließlich der Arm bei jedem Umdrehen im Bett auskugelte, beschloss man, ihm ein neues Schultergelenk einzupflanzen. Das wurde im Bergmannsheil Krankenhaus in Bochum gemacht. Die Narbe war wirklich riesig! Es dauerte ein halbes Jahr, bis er wieder arbeiten konnte. Wir besuchten ihn oft in Bochum, im Bergmannsheil. Das waren lange, beschwerliche Unternehmungen, denn meine Mutter arbeitete selbst ja auch! Sie hatte mehrere Putzstellen in Essen Stadtwald und Essen Süd.
Mein Vater litt unter Magenschwüren, er musste regelmäßig „Magnesia“ einnehmen, unter einem Zwölffingerdarmgeschwür, unter einem Bandwurm, der schließlich dramatisch mit Zinktabletten „ausgetrieben“ wurde. Er hatte Hämorrhoiden Operationen, bei denen ihm der Schließmuskel verletzt wurde. Von da an hatte er eine Darmfistel und wurde daran acht mal operiert. Wir besuchten ihn im Hüssenstift und im Elisabethkrankenhaus. Es gab dort Klassen und mein Vater lag natürlich dritter Klasse. Was ich dort gesehen habe, war unglaublich. Viele Betten standen in einem Zimmer, die Flure und Badezimmer standen voll mit belegten Betten. Schwerstkranke, frisch Operierte lagen dort völlig öffentlich und ungeschützt. Es stank nach allem und viele stöhnten.

Papa hatte eine Knappenuniform, in unserem schwarzen Kohlenkeller wurde sie in einem alten Schrank, der dort stand, neben dem Eingemachten aufbewahrt. Er holte sie nur zu Beerdigungen hervor, wenn Kumpels verunglückt waren. Das war sehr bedrückend, auch für mich. Trotzdem war die Uniform schön und er sah darin „schmuck“ aus. Am Grab wurde jedes mal „Ich hatt´ einen Kameraden“ posaunt, was er schrecklich fand, warum konnte ich damals noch nicht verstehen. Ebenso „Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an Dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab“. Er sang es oft höhnisch, ironisch.
Später glaubte er, er solle in den Wahnsinn, ja in den Tod getrieben werden durch verschiedene Arten von Terror, auch Psychoterror und Verfolgung.
Immer schon hatte er schlimme Zwangsneurosen, die sich verschieden äußerten, z. B. Zuckungen im Gesicht, zwanghafte Kopfbewegungen. Er konnte Handlungen, wie z. B. „den Schrank abschließen“ nicht zu Ende führen, rüttelte ewig daran herum, schloss immer wieder auf, bis meine Mutter ihn ins Bett zerrte. Oder das Pinkeln vor dem Nacht-Eimer nicht abschließen. Der letzte Tropfen ließ sich nicht abschütteln, wieder riss meine Mutter ihn los. Wir hatten nur zwei Zimmer und ich bekam im gemeinsamen Schlafzimmer alles mit. Nachts brachen auch oft Fluchgebete aus ihm heraus, er stand wieder auf und lief so verfluchend und gleichzeitig betend in der Wohnküche auf und ab. Später bereute er das, unter anderem deshalb, weil er befürchtete, abgehört zu werden. Aber es geschah immer wieder. Dann wollte er aus dem Fenster springen, Tabletten schlucken oder sprang zum Waschbecken, zur Rasierklinge. Meine Mutter rettete ihn, bewahrte ihn, beschwor ihn, doch auf der Zeche zu kündigen. Das traue er sich auch nicht, was würde in der Zeit der Kündigungsfrist mit ihm dort geschehen? Das alles war noch im Bereich des „Gesunden“. Meine Mutter und ich litten viele Ängste um meinen Vater. Würde er nach Hause kommen? Wenn ja, wie? Angst vor schlimmen, sogar tödlichen Unfällen war eigentlich immer präsent. Wir hatten auch Angst vor ihm, denn er konnte sehr jähzornig werden und spielte mit Gedanken, einfach uns allen ein Ende zu bereiten. Ich war mir nie sicher, ob ich bei ihm sicher war …
Dann tat ihm alles wieder leid, er weinte und wir schmolzen vor Mitleid dahin. Er entschuldigte sich oft auch. Er war kein Tyrann, er war verzweifelt und wurde doch auf eine Art dabei immer egozentrischer
Eines Nachts beschloss er, nicht mehr zur Zeche zu gehen. Er war sich darüber klar, dass er damit Kontraktbruch begehen würde, aber er konnte einfach nicht mehr und hatte wie gesagt auch Angst vor der Kündigungsfrist. Allerdings wurde auch dieser Bruch ihm zum Verhängnis. Er befürchtete plötzlich, dass man ihm das so übel nehmen könnte, dass man ihn dafür „bestrafen“ würde.

Eines Nachmittags

Eines Nachmittags, ich war gerade zwölf Jahre alt, kam meine Mutter weinend aus der Stadt.
Ich war sehr erschrocken und fragte, was los sei. Sie setzte sich an den Küchentisch und versuchte, mich zu beruhigen, aber es gelang nicht mehr. Ich spürte, etwas, was immer schon wackelig gewesen war, endgültig und zutiefst erschüttert.
„Sag mir, was ist!“ schrie ich, und sie antwortete weinend, mein Vater sei wie irre in die Stadt zurückgerannt, um jemanden zu stellen, der ihn bei „Tchibo“ bedroht habe. Aber es sei da ganz sicher niemand gewesen. Mir wankten die Knie. Das war der Höhepunkt jahrelanger Angst vor denen da unten, den Bonzen, denen, die etwas mehr Macht hatten, den Steigern, Obersteigern, den Verrätern unter den Kumpels, denen, die die Butterbrote klauten, denen, die das dunkle Leben da unten buchstäblich zur Hölle machten, die Arbeitskraft und Verantwortungsbereitschaft schamlos ausnutzten, den übriggebliebenen Faschisten, die ihr Regime da unten weiterführten …
„Papa!“ schrie ich wieder und begann, auch zu weinen.
Dann kam er und war ganz verändert. Zornig und mit wahnsinniger Angst erfüllt, er solle nun ermordet werden. Die berechtigten Ängste waren ins Wahnsinnige umgekippt, etwas Unheimliches war ausgebrochen, das ihn und uns, unsere Leben verändern sollte, bedrohen, tiefer führen.
Ich liebte ihn, weil er die Wahrheit spürte, so sensibel war, das Schöne wollte und liebte – und genau daran ist er zerbrochen.

Danach wurde das Leben fast unmöglich. Er sah Bedroher mit Messern und Pistolen überall, Menschen mit Fotoapparaten und fühlte sich zunehmend belauscht, auch in der Wohnung. Im Radio, im Fernsehen sendeten Menschen Botschaften für ihn aus. Er unterhielt sich mit dem Radiosender. Das alles kann ich nicht mehr chronologisch beschreiben. Der erste Selbstmordversuch war nochmals traumatisch schlimm für mich und meine Mutter. Er versuchte es über die Pulsadern, wurde von meiner Mutter gefunden und ins Klinikum Essen, geschlossene Psychiatrische Abteilung eingewiesen. Daraus wurde ein langer Weg. Es folgten mehrere Selbstmordversuche, immer über die Pulsadern. Bei seinem Tod 1997 sah ich zum ersten Mal die Narben an beiden Unterarmen, bis hinauf zum Ellbogen war er kreuz und quer zerschnitten. Immer wieder landete er in der Psychiatrie, wurde medikamentös eingestellt. Die Medikamente vertrug er sehr schlecht, allem voran Haloperidol, dass irgendwann verboten wurde.(Es kam aber soviel ich weiß als“Haldol“ wieder auf den Markt.) Dann die Gegenmittel gegen die Nebenwirkungen, z:B. Bewegungsunruhe. Die machten ihn träge, er bewegte sich wie eine Puppe. Er wurde sehr dick und aufgeschwemmt. Er unterhielt sich kaum noch. Lief angstschweißüberströmt in der Wohnung auf und ab. Er hatte eine Zeitlang Verhaltenstherapie, eine Frau, die täglich mit ihm durch die Stadt ging, zu seiner neuen Arbeitsstelle im Deutschlandhaus, wo ein Arbeitgeber meiner Mutter ihn untergebracht hatte als „technischer Zeichner“. Was er wirklich dort tat, weiß ich nicht, ich denke er wurde einfach mit durchgezogen. Außerdem fiel er ja die meiste Zeit aus. Er war zweimal drei Monate in Heidhausen zu einer Therapie, wo ich ihn nie besuchen durfte. In der Psychiartrie war ich oft mit meiner Mutter zu Besuch. Das stellte noch mehr meine Werte auf den Kopf. Wer war da „gefangen“? Die Sensibelsten. Was und wer ist „normal“? Die drinnen oder die „Dickfelligen“?
Ich fand, er bräuchte viel mehr Gespräche, anstatt „blöder“ Beschäftigungstherapie … Er machte alles brav mit, aber nichts half gegen die Angst, außer wenn wir uns unterhielten. So stellte ich mich zur Verfügung für Gespräche, auch über seine Kindheit, seine Mutter. Wo war die wirkliche, verständnisvolle Gesprächstherapie in den späten 60iger und frühen 70iger Jahren?

Mit 35 Jahren wurde er schließlich Frührententner, was die Krankheit allerdings nicht verbesserte.

Ich versuchte immer wieder, ihn zum Schreiben zu bewegen, um sich zu erleichtern. Er hatte in der Schule gute Aufsätze geschrieben, und das Schreiben war ihm wichtig gewesen.
Aber lange war er auch dazu nicht in der Lage, bis ich auf Max von der Grün stieß, seine Romane „Männer in zweifacher Nacht“ und „Irrlicht und Feuer“, aber auch „Stellenweise Glatteis“, gaben ihm um ersten Mal das Gefühl, verstanden zu sein und nicht mehr ganz allein. Trotzdem konnte er sie nie wieder anrühren, sie wühlten gleichzeitig zu viele Wunden auf.
Lange danach, erst einige Jahre vor seinem Tod begann er aber zu schreiben. Gedichte, Gebete, Kurzgeschichten. Das Meiste brachte er jeden Morgen, er schrieb nachts, in ein Kloster in Dorsten, wohin meine Eltern wegen der Essener Stadtangst umgezogen waren. Einiges durfte meine Mutter abschreiben, aber nur die harmlosesten Sachen, die ihn nicht belasten konnten.

Er wurde dann wie taub, auch uns gegenüber. Immer wieder waren wir plötzlich auch Teil des Verfolgungssystems, was echt gefährlich war, aber nicht zu ändern. Meistens konnten unsere Tränen ihn davon überzeugen, dass das Quatsch war.
Die „Ruhrkohle AG“ und „Die Gewerkschaft“ standen im Vordergrund seiner Ängste.
Irgendwann wurde er im Klinikum Studenten „vorgeführt“, als typischer Schizophrenie Fall. Er kam im Bademantel in einen Hörsaal auf die Bühne und wurde aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen, was er tat. Hinterher war er sehr verletzt, hatte sich auch dazu gedrängt gefühlt.
Um ihn herum versank jegliches Interesse am Ergehen anderer, zum Beispiel an unserem Ergehen. Er wurde immer mehr zum absoluten Mittelpunkt, und manchmal waren wir direkt erleichtert, wenn er eine Zeitlang „weg“ war … Gleichzeitig träumte ich von der „offenen Psychiatrie“, von einer ganz anderen Art von Integration psychisch Kranker.
Er war auch mittlerweile Lungenkrank, denn er hatte einige Prozente „Staub“ und war außerdem Kettenraucher Tag und Nacht, denn er schlief kaum noch. Wir „rauchten mit“, notgedrungen. Immer wieder bekam er eine Art Lungenentzündung. Einige Male wurde er ins künstliche Koma versetzt und wir bangten darum, ob er wohl wieder erwachte …
Er bekam eine Gallenblasenentzündung und musste operiert werden. Im Anschluss daran wieder eine Lungenentzündung. Durch den Husten einen sogenannten „Platzbauch“, der Bauch riss im Zickzack von oben nach unten auf. Er wurde täglich ein Stückchen weiter operiert, unter örtlicher Betäubung, denn Narkose war nicht mehr möglich. Er überlebte. Ich glaube, er wollte seinen Tod durch das Rauchen herbeiführen, denn er hörte nie auf zu rauchen, sondern steigerte es immer mehr. Dazu begann er Alkohol zu trinken, eine gefährliche Mischung mit den Medikamenten. Mit einem Medikament namens „Imap“ (Depotspritze), war er ganz gut eingestellt soweit. Er schnitt sich nicht mehr. Aber er verließ kaum mehr das Haus. Einmal im Bus setzte sich der „Teufel“ neben ihn und forderte ihn zu einem Pakt auf. Wenn er ihm seine Seele verschriebe, würde er im Gegenzug weniger Angst haben. Von da an versteinerte er immer mehr.
Meinen Weggang von zu Hause, von ihm, hat er fast nicht verkraftet. Aber ich war selbst mittlerweile am Boden, musste mich um mein Leben kümmern.
Er starb nach einer Lungenentzündung. Er hatte dem Drängen meiner Mutter nachgegeben und mich in Norddeutschland zum 40. Geburtstag besucht. Er bekam einen Rückfall und starb dann sehr schnell im Krankenhaus in Eckernförde mit 62 Jahren.
Das ist nun sehr gedrängt geschrieben, hat natürlich viele Teilaspekte nicht berücksichtigt. Viele Dinge könnte ich noch erzählen, aber hier sollte es ja um den Werdegang des „Kumpels“ gehen. Ja, so konnte er auch aussehen
( Ein Jahr später heiratete meine Mutter wieder einen Bergmann.)

Im Pott

Ich fahre durch Schnee
ins Ruhrgebiet ein.
Mein Rücken tut weh.

Schrebergärten, Förderturm und Feld,
Lagerhallen, dazwischen Wald, Kohleberge,
vertraut ist mir diese Welt.

Doch meine müden Augen sehen
nun viel Anderes
hinter dem Vertrauten stehen.

Wie viele Völker schmolzen hier zusammen?
Wie viele Juden hofften auf neuen Ort?
Wie viel Neues wurde hier geboren?
Wie viel Hoffnung wehte fort?

Welches Leid war wirklich unser Boden?
Wie viel Schweigen deckte welche Wunden zu?
In welche Schuld sind wir (noch) verstrickt?
Wann finden die Gespenster Ruh?
Wie viele wurden hier verrückt?

 

 

Kurzer Text von Johann Kremer

Vincent Schwartauer
Ein Bergmann und mehr

Wenn ich Vincent Schwartauer sage, dann meine ich Zeche pur.
Eine blasende Druckluftleitung, störendes Hufwerk in der Bahn, verschlammte Wassergräben und im Ablauf des westlichen Stapels Wagen anknebeln.
Da braucht es Männer, die Arbeit sehen, die zupacken, die sich nicht zu schade sind. Und so einer war Vincent Schwartauer.
Fragten ihn Neulinge nach seiner Tätigkeit auf dem Pütt, pflegte er kurz zu sagen: „Ich bin in der Bahn.“und der Glanz in seinen Augen verriet, was das bedeutete: Den Überblick behalten, selbständiges Arbeiten, die Anforderung an sich selbst den Erfordernissen anpassen, da sein für den Pütt.
Meistens Morgenschicht, was nur die als Privileg ansehen, die sie nicht haben. Rapport beim Steiger, und auch mal ein Lob einstecken können, ohne gleich die Nase hoch zutragen.
Vincent Schwartauer war eben auf der Zeche; Er war Er, Er war Er selbst.
Und als er ging, nahm er nicht ein Beil, eine Säge mit, er nahm den Pütt mit.
Und weil das so ist, sind Männer wie Vincent Schwartauer nicht mehr gefragt.
Man will wenigstens als „Unternehmen Ruhrbergbau“ noch einige Zeit Bestand haben.
Mein Kompliment, Vincent Schwartauer!
Man traut dir allerhand zu.
Unsere Träume sind deine Realität.
Und du lebst sie für uns.
Ach, sag doch: Wann endlich wieder mit uns?

 

6.12.95

Dann erschallt des Bergmanns Gruß in der Nacht

Wo einst der Schacht aufragte,
man mit Glückauf sich grüßt,
einander Kumpel sagte,
und Schweiß das Brot versüßt,
ist heute eine Halde,
vom Birkenstamm begrünt.
Es rauscht im lichten Walde:
Hier haben sie gedient.

Es deckt die warme Erde
das ewge schwarze Gold.
Das eine ward Beschwerde,
das andre stand im Sold.
Die Lieder sind verklungen, die Räder singen nicht,
was einstens hier gerungen
das kündet kein Gedicht.

Was auch die Nornen weben,
was auch die Zukunft bringt,
was es auch bringt, das Leben, das künftig hierher dringt:
Bedenkt, ihr künftgen Stände,
heute noch ungeahnt:
Es waren Bergmannshände,
die euch den Weg gebahnt.

Hans Kremer

 

Fördersoll

Fünftausend Tonnen Kohlen
gefördert jede Schicht.
Fünftausend Tonnen Kohlen
schwärzen manch Angesicht.

Fünftausend Tonnen Kohlen,
die haben wir gemacht.
Auf allen sieben Sohlen
da herrscht die ew`ge Nacht.

Fünftausend Tonnen Kohlen,
die würden´s heut` noch sein.
Doch keine Wagen rollen,
es blitzt kein Lampenschein.

Fünftausend Tonnen Kohlen?
Ach was, wer bin ich denn?
Man wird mich noch versohlen,
wenn ich nicht endlich penn´.

3.4.1990 Hans Kremer

Externer Link:

Bitte schaut im Gedenken an Hans Kremer, der heute am 17.10.2021 86 Jahre alt würde und aller Bergleute dieses vier Minuten Video an, hört das Bergmannslied, von Bergleuten gesungen zu Ende an. Ich hörte es sehr oft als Kind: (vier Minuten)

https://www.youtube.com/watch?v=HUhwJJxpFGY

 

 

Interne Links: Wer mehr Erinnerungen lesen möchte: Zum Beispiel:

https://petras-lyrik-blog.de/sie-schicken-mich-in-die-welt/

https://petras-lyrik-blog.de/essener-duft/